2025-09-08-coi-cms-laenderinformationen-somalia-version-8-50fd
Dieses Dokument ist Teil der Anfrage „Länderinformationsblätter“
19.2.2 Somaliland Letzte Änderung 2025-01-16 14:11 Rechtliche Lage: Das somaliländische Parlament hat am 1.2.2022 ein richtungsweisendes Gesetz zum Schutz von Kindern vor allen Formen von Missbrauch und Vernachlässigung ver abschiedet. Es handelt sich dabei um das erste Kindergesetz des Landes. Damit wird auch die Rechtslücke hinsichtlich FGM/C geschlossen (PLAN/Presseportal 3.2.2022). Nach ande ren Angaben macht dieses Gesetz keine Angaben zu FGM. Es wurde im Oktober 2022 vom Präsidenten unterzeichnet und ist in Kraft getreten (CRR/Jama 1.6.2024). Seit 2018 gibt es jedenfalls eine Fatwa des somaliländischen Religionsministeriums, welche sich gegen die schlimmsten Formen von FGM/C - namentlich gegen die Infibulation - richtet (US DOS 22.4.2024; vgl. AA 23.8.2024). Die Sunna ist davon nicht erfasst (MoHDSL/UNFPA 2021; vgl. FH 2024a). Die Fatwa spricht Opfern von FGM/C Schadenersatz zu (USDOS 22.4.2024; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 29). Die Möglichkeiten für Mädchen und Frauen, im Fall einer dro henden Beschneidung rechtliche Unterstützung zu erhalten, sind aber eingeschränkt (LIFOS 16.4.2019, S. 42), und insgesamt hat die Fatwa laut einer Quelle zu keiner messbaren Änderung in der Praxis geführt (AA 23.8.2024). Gesellschaft: Der Widerstand gegen FGM ist in Somaliland aber am weitesten fortgeschritten. Nahezu jede Woche findet irgendwo ein entsprechender Workshop statt (FIS 5.10.2018, S. 31). Beispielsweise reisen Mitarbeiter der Somaliland Family Health Association von Dorf zu Dorf, um die Menschen hinsichtlich der Nachteile von FGM zu sensibilisieren (USDOS 22.4.2024). In einem anderen Beispiel informiert CARE Frauen und Mädchen über ihre Rechte und bildet sie aus, damit sie sich gegenseitig unterstützen und sich gegen FGM/C einsetzen können (CARE 4.2.2022). Im Zuge einer Studie im Jahr 2011 gaben in Somaliland nur 29 % der befragten Frauen an, dass die traditionelle Infibulation beibehalten werden soll (BMC/Yussuf/et al. 2020, S. 2; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 14); 2006 waren es noch 65 % gewesen (BMC/Yussuf/et al. 2020, S. 2). Bei einer Studie aus dem Jahr 2020 gaben 53 % der Befragten an, dass es weiterhin Beschneidungen ge ben sollte. Allerdings wurde bei dieser Studie nicht nach spezifischen Typen gefragt (MoPNDSL 2021). Prävalenz: Bei einer umfassenden Studie aus dem Jahr 2020 haben 98 % der befragten soma liländischen Frauen angegeben, einer Form von FGM/C unterzogen worden zu sein (MoPNDSL 2021). 2011 taten dies noch 99 % der Frauen (BMC/Yussuf/et al. 2020, S. 1f; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 20). Gleichzeitig sinkt die Quote in den unterschiedlichen Altersgruppen: Bei den 45-49-Jährigen liegt die Beschnittenenquote bei fast 100 %, bei den 15-19-Jährigen hingegen bei 96 % (MoPNDSL 2021). Typen: Aufklärungsmaßnahmen haben in Somaliland zu einem fundamentalen Wechsel bei der Praxis von FGM/C geführt – und zwar weg von der drastischen Verstümmelung in Form einer Infibulation und hin zur leichteren bzw. weniger invasiven Form einer Beschneidung – z. B. in Form der Sunna (PC/Powell/Yussuf 1.2018, S. 22ff; vgl. ÖB Nairobi 10.2024). Laut einer 264

Quelle wird das als positive Entwicklung bewertet; demnach handelt es sich bei der Sunna um ein Einstechen oder Einritzen der Klitoris (PC/Powell/Yussuf 1.2018, S. 22f/24). 2020 gaben 61 % der befragten Frauen an, eine Infibulation erlitten zu haben, 29 % eine Sunna und 7 % eine Zwischenform (MoPNDSL 2021). Anfang der 1990er-Jahre hatten bei einer Studie nur 5,5 % der befragten Frauen eine Sunna angegeben (PC/Powell/Yussuf 1.2018, S. 22). Ein weiterer Vergleich verdeutlicht den raschen Wechsel noch besser: Bei einer Studie aus dem Jahr 2016 in den somaliländischen Regionen Maroodi Jeex und Togdheer gaben nur 34 % der Mädchen im Alter von 12-14 Jahren an, eine Infibulation erlitten zu haben. Bei den Über- 25-Jährigen waren es hingegen 96 % (PC/Powell/Yussuf 1.2018, S. 23). Im Durchschnitt aller Altersgruppen bleibt freilich die Infibulation die vorherrschende Form (USDOS 22.4.2024). Auch nach staatlichen Angaben ist die Sunna bei jüngeren Frauen und Mädchen verbreiteter. Bei der Gruppe der 15-19-Jährigen sind es demnach 55 %, bei den 45-49-jährigen Frauen hingegen nur 5 %. Dafür erlitten in der Alterskohorte 45-49 90 % eine Infibulation. Neben dem Alter spielen auch die Lebensumstände eine Rolle: Bei Nomaden sind 100 % der Frauen beschnitten (69 % Infibulation), in Städten sind es 97 % (56 % Infibulation) (MoPNDSL 2021); Frauen mit höherer Bildung (Sekundärbildung) wurden eher einer Sunna unterzogen, jene mit niedriger oder keiner Bildung eher eine Infibulation. Eine ähnliche Situation gilt für reich vs. arm (MoPNDSL 2021; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 21f). Hinsichtlich der somaliländischen Regionen ist FGM in Sanaag am präsentesten (100 %), in der Hauptstadtregion am niedrigsten (96 %). Die Sunna wiederum ist in der Region Awdal am verbreitetsten (42 %), die Infibulation in Sool (70 %) (MoPNDSL 2021). Quelle 25: MoPNDSL 2021 265

Laut einer Quelle ist es in Somaliland sehr unüblich, dass Großeltern über die Köpfe der Eltern hinweg über eine Beschneidung entscheiden. Wenn, dann kann dies eher noch in ländlichen Ge bieten vorkommen. Gehen die Meinungen der Eltern allerdings auseinander, können weibliche Verwandte an Einfluss gewinnen (LIFOS 16.4.2019, S. 26f). Quellen ■ AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (23.8.2024): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia, https://milo.bamf.de/otcs/cs.exe/app/nodes/30275841, Zugriff 4.9.2024 [Login erforderlich] ■ BMC/Yussuf/et al. - BMC Health Services Research (Herausgeber), et al. (Autor), Mohamed Yussuf (Autor) (2020): Exploring the capacity of the Somaliland healthcare system to manage female genital mutilation / cutting-related complications and prevent the medicalization of the practice: a cross- sectional study, https://www.orchidproject.org/wp-content/uploads/2020/04/exploring-the-capacit y-of-the-somaliland-healthcare-system-to-manage-female.pdf , Zugriff 25.6.2024 ■ CARE - CARE International (4.2.2022): Somalia - Betroffene von Genitalverstümmelung werden immer jünger, https://care.at/presse/somalia-betroffene-von-genitalverstummelung-werden-immer-j unger/, Zugriff 25.6.2024 ■ CRR/Jama - Guleid Ahmed Jama (Autor), Children’s Rights Research (Herausgeber) (1.6.2024): Children’s rights in Somaliland, https://www.childrensrightsresearch.com/stories/?view=article&id=5 4-alias-title, Zugriff 25.6.2024 ■ FH - Freedom House (2024a): Freedom in the World 2024 - Somaliland, https://www.ecoi.net/de/do kument/2109065.html, Zugriff 8.7.2024 ■ FIS - Finnische Einwanderungsbehörde [Finnland] (5.10.2018): Somalia: Fact-Finding Mission to Mogadishu and Nairobi, January 2018, https://migri.fi/documents/5202425/5914056/Somalia_- Fact_Finding Mission to Mogadishu and Nairobi January 2018.pdf/2abe79e2-baf3-0a23-97d1- f6944b6d21a7/Somalia_Fact_Finding Mission to Mogadishu and Nairobi January 2018.pdf.pdf, Zugriff 12.3.2024 ■ LIFOS - LIFOS-Migrationsverket [Schweden] (16.4.2019): Somalia - Kvinnlig könsstympning (version 1.0), https://www.ecoi.net/en/file/local/2007150/190416400.pdf, Zugriff 21.6.2024 ■ MoHDSL/UNFPA - Ministry of Health Development [Somaliland], United Nations Population Fund (2021): Looking Beyond Numbers. Female Genital Mutilation/Cutting (FGM/C) Study Report, https: //somalia.unfpa.org/sites/default/files/resource-pdf/somaliland_fgm-c_report_final_signed_0.pdf , Zugriff 21.6.2024 ■ MoPNDSL - Ministry of Planning and National Development, Central Statistics Department [Somali land] (2021): The Somaliland Health and Demographic Survey 2020, https://somalia.unfpa.org/site s/default/files/pub-pdf/slhds2020_report_2020.pdf, Zugriff 25.6.2024 ■ ÖB Nairobi - Österreichische Botschaft Nairobi [Österreich] (10.2024): Asylländerbericht zu Somalia, https://www.ecoi.net/en/file/local/2116331/SOMA_ÖB-Bericht_2024_10.pdf , Zugriff 22.10.2024 [Login erforderlich] ■ PC/Powell/Yussuf - Richard A. Powell (Autor), Mohamed Yussuf (Autor), Population Council (Her ausgeber) (1.2018): Changes in FGM/C in Somaliland: Medical narrative driving shift in types of cutting. Evidence to End FGM/C: Research to Help Women Thrive, https://www.popcouncil.org/upl oads/pdfs/2018RH_FGMC-Somaliland.pdf, Zugriff 25.6.2024 ■ PLAN/Presseportal - PLAN International (Autor), Presseportal.ch (Herausgeber) (3.2.2022): Meilen stein zur Beendigung weiblicher Genitalverstümmelung und Beschneidung, https://www.presseport al.ch/de/pm/100018128/100884761, Zugriff 25.6.2024 ■ USDOS - United States Department of State [USA] (22.4.2024): 2023 Country Report on Human Rights Practices - Somalia, https://www.state.gov/reports/2023-country-reports-on-human-rights-p ractices/somalia, Zugriff 23.4.2024 266

19.2.3 Reinfibulation, Deinfibulation Letzte Änderung 2024-12-04 09:06 Die Thematik der Reinfibulation (Wiederherstellung einer Infibulation, Wiederzunähen) betrifft jene Frauen und Mädchen, die bereits einer Infibulation unterzogen und später deinfibuliert wur den. Letzteres erfolgt z. B. im Rahmen einer Geburt, zur Erleichterung des Geschlechtsverkehrs (LIFOS 16.4.2019, S. 35/12; vgl. Landinfo 14.9.2022, S. 9/12) oder aber z. B. auf Wunsch der Fa milie, wenn bei der Menstruation Beschwerden auftreten (LIFOS 16.4.2019, S. 32; vgl.Landinfo 14.9.2022, S. 12). Es gibt zudem anekdotische Berichte, wonach eine neue Intervention durch geführt wurde, weil die Familie eine umfassendere Intervention als die ursprüngliche gewünscht hat (Landinfo 14.9.2022; vgl. HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 74). Eine Reinfibulation kommt v. a. dann vor, wenn Frauen - üblicherweise noch vor der ersten Eheschließung - eine bestehende Jungfräulichkeit vorgeben wollen (DIS 1.2016, S. 23). Obwohl es vor einer Ehe gar keine physische Untersuchung der Jungfräulichkeit gibt (LIFOS 16.4.2019, S. 40f), kann es bei jungen Mädchen, die z. B. Opfer einer Vergewaltigung wurden, zu Druck oder Zwang seitens der Eltern kommen, sich einer Reinfibulation zu unterziehen (HEART/Crawford/ Ali 2 2015, S. 73/76; vgl. CEDOCA 13.6.2016, S. 9). Vergewaltigungsopfer werden oft wieder zugenäht (HO 27.2.2019; vgl. Landinfo 14.9.2022, S. 12). Es gibt anekdotische Berichte über Fälle, in denen unverheiratete Mädchen oder junge Frauen aus der Diaspora nach Somalia geschickt wurden, um eine Reinfibulation durchzuführen (Landinfo 14.9.2022). Eine Quelle gibt an, dass es Folgen - bis hin zur Scheidung - haben kann, wenn ein Ehemann in der Hochzeitsnacht feststellt, dass eine Deinfibulation bereits vorliegt. Eine Scheidung kann in diesem Fall zu einer indirekten Stigmatisierung infolge von „ Gerede“ führen. Generell können zur Frage der Reinfibulation von vor der Ehe deinfibulierten Mädchen und jungen Frauen nur hypothetische Angaben gemacht werden, da z. B. den von der schwedischen COI-Einheit LIFOS befragten Quellen derartige Fälle überhaupt nicht bekannt waren (LIFOS 16.4.2019, S. 40f). Als weitere Gründe, warum sich Frauen für eine Reinfibulation im Sinne einer weitestmögli chen Verschließung entscheiden, werden in einer Studie aus dem Jahr 2015 folgende genannt: a) nach einer Geburt: Manche Frauen verlangen z. B. eine Reinfibulation, weil sie sich nach Jahren an ihren Zustand gewöhnt hatten und sich die geöffnete Narbe ungewohnt und unwohl anfühlt; b) manche geschiedene Frauen möchten als Jungfrauen erscheinen; c) Eltern von Ver gewaltigungsopfern fragen danach; d) in manchen Bantu-Gemeinden in Süd-/Zentralsomalia möchten Frauen, deren Männer für längere Zeit von zu Hause weg sind, eine Reinfibulation als Zeichen der Treue (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 76; vgl. CEDOCA 9.6.2016, S. 11). Gesellschaftlich verliert die Frage einer Deinfibulation oder Reinfibulation nach einer Eheschlie ßung generell an Bedeutung, da die Vorgabe der Reinheit/Jungfräulichkeit irrelevant geworden ist (LIFOS 16.4.2019, S. 40). Für verheiratete oder geschiedene Frauen und für Witwen gibt es keinen Grund, eine Jungfräulichkeit vorzugeben (CEDOCA 13.6.2016, S. 6). Wird eine Frau vor einer Geburt deinfibuliert, kann es vorkommen, dass nach der Geburt eine Reinfibulation stattfindet. Dies obliegt i.d.R. der Entscheidung der betroffenen Frau (LIFOS 267

16.4.2019, S. 40; vgl. CEDOCA 9.6.2016, S. 26). Die Gesellschaft hat kein Problem damit, wenn eine Deinfibulation nach einer Geburt bestehen bleibt, und es gibt üblicherweise keinen Druck, sich einer Reinfibulation zu unterziehen. Viele Frauen fragen aber offenbar von sich aus nach einer (manchmal nur teilweisen) Reinfibulation (CEDOCA 13.6.2016, S. 9f/26). Gemäß Angaben einer Quelle ist eine derartige - von der Frau verlangte - Reinfibulation in Somalia durchaus üblich. Manche Frauen unterziehen sich demnach mehrmals im Leben einer Reinfibulation (HEART/Crawford/Ali 2 2015, S. 73/75f). Nach anderen Angaben kann ein derartiges Neu- Vernähen der Infibulation im ländlichen Raum vorkommen, ist in Städten aber eher unüblich (FIS 5.10.2018, S. 29). Die Verbreitung variiert offenbar auch geographisch: Bei Studien an somalischen Frauen in Kenia haben sich 35 von 57 Frauen einer Reinfibulation unterzogen. Gemäß einer anderen Studie entscheiden sich in Puntland 95 % der Frauen nach einer Geburt gegen eine Reinfibulation (CEDOCA 9.6.2016, S. 13f). Insgesamt gibt es zur Reinfibulation keine Studien, die Prävalenz ist unbekannt. Eine Wissenschaftlerin, die sich seit Jahren mit FGM in Somalia auseinandersetzt, sieht keine Grundlage dafür, dass nach einer Geburt oder Scheidung systematisch eine Reinfibulation durchgeführt wird – weder in der Vergangenheit noch in der heutigen Zeit. Im somalischen Kontext wird demnach eine Infibulation durchgeführt, um die Jungfräulichkeit vor der Ehe zu „ beweisen“. Dementsprechend macht es keinen Sinn, eine verheiratete Frau nach der Geburt zu reinfibulieren (Landinfo 14.9.2022, S. 12f). Freilich kann es vorkommen, dass eine Frau – wenn sie z. B. physisch nicht in der Lage ist, eine Entscheidung zu treffen – auch gegen ihren Willen einer Reinfibulation unterzogen wird; die Entscheidung treffen in diesem Fall weibliche Verwandte oder die Hebamme. Es kann auch nicht völlig ausgeschlossen werden, dass Frauen durch Druck von Familie, Freunden oder dem Ehemann zu einer Reinfibulation gedrängt werden. Insgesamt hängt das Risiko einer Reinfibulation also zwar vom Lebensumfeld und der körperlichen Verfassung der Frau nach der Geburt ab, aber generell liegt die Entscheidung darüber bei ihr selbst. Sie kann sich nach der Geburt gegen eine Reinfibulation entscheiden. Es kommt in diesem Zusammenhang weder zu Zwang noch zu Gewalt. Keine der zahlreichen, von der schwedischen COI-Einheit LIFOS dazu befragten Quellen hat jemals davon gehört, dass eine deinfibulierte Rückkehrerin nach Somalia dort zwangsweise reinfibuliert worden wäre (LIFOS 16.4.2019, S. 41). Quellen ■ CEDOCA - Center for Documentation and Research of the Office of the Commissioner General for Refugees and Stateless Persons [Belgien] (13.6.2016): Somalië - Defibulatie en herinfibulatie bij geïnfibuleerde vrouwen in Zuid- en Centraal-Somalië; Dokument liegt bei der Staatendokumentation auf. ■ CEDOCA - Center for Documentation and Research of the Office of the Commissioner General for Refugees and Stateless Persons [Belgien] (9.6.2016): Somalië - Vrouwelijke genitale verminking (VGV) in Somaliland en Puntland; Dokument liegt bei der Staatendokumentation auf. ■ DIS - Danish Immigration Service [Denmark] (1.2016): South Central Somalia - Female Genital Mutilation/Cutting, https://www.ecoi.net/en/file/local/1061775/1226_1455786226_fgmnotat2016.pdf, Zugriff 25.6.2024 268

■ FIS - Finnische Einwanderungsbehörde [Finnland] (5.10.2018): Somalia: Fact-Finding Mission to Mogadishu and Nairobi, January 2018, https://migri.fi/documents/5202425/5914056/Somalia_- Fact_Finding Mission to Mogadishu and Nairobi January 2018.pdf/2abe79e2-baf3-0a23-97d1- f6944b6d21a7/Somalia_Fact_Finding Mission to Mogadishu and Nairobi January 2018.pdf.pdf, Zugriff 12.3.2024 ■ HEART/Crawford/Ali 2 - Health and Education Advice and Resource Team (Herausgeber), Sheena Crawford (Autor), Sagal Ali (Autor) (2015): Assignment Report. Situational analysis of FGM/C stake holders and interventions in Somalia, https://assets.publishing.service.gov.uk/media/57a089914 0f0b64974000154/Situational-analysis-if-FGM-stakholders-and-interventions-somalia-UN.pdf , Zugriff 26.6.2024 ■ HO - Hiiraan Online (27.2.2019): Somali refugee’s fight against ’silent killer’ of FGM inspires film, https://www.hiiraan.com/news4/2019/feb/162482/somali_refugee_s_fight_against_silent_killer_of_ fgm_inspires_film.aspx, Zugriff 28.6.2024 ■ Landinfo - Referat für Länderinformationen der Einwanderungsbehörde [Norwegen] (14.9.2022): Kjønnslemlestelse av kvinner [FGM], https://landinfo.no/wp-content/uploads/2022/09/Somalia-t emanotat-Kjonnslemlestelse-av-kvinner-03032021_oppdatert-16112021_13092022.pdf , Zugriff 25.6.2024 ■ LIFOS - LIFOS-Migrationsverket [Schweden] (16.4.2019): Somalia - Kvinnlig könsstympning (version 1.0), https://www.ecoi.net/en/file/local/2007150/190416400.pdf, Zugriff 21.6.2024 19.3 Kinder Letzte Änderung 2025-01-16 14:10 Siehe hier für Wehrdienst und Rekrutierungen / Al Shabaab - (Zwangs-)Rekrutierungen und Kindersoldaten Die Regierung setzt Kinderrechte nur selten durch (Sahan/SWT 22.7.2022). Im Mai 2024 waren knapp 1,7 Millionen 5-6-jährige Kinder in ganz Somalia von akuter Unter ernährung betroffen, davon 430.000 von schwerer Unterernährung (UNSC 3.6.2024). Somalia hat weltweit die höchste Kindersterblichkeitsrate (AI 18.8.2021, S. 5). Über 110 von 1.000 Kin dern sterben vor ihrem fünften Geburtstag (Sahan/SWT 29.9.2023; vgl. WB 6.2021, S. 30); in Somaliland sind es 91 (MoHDSL 2022). Die grundlegenden Impfungen erfolgen bei Kindern in nomadischen Gebieten bei nur 1 %, bei der restlichen ländlichen Bevölkerung bei 14 % und in Städten bei 19 % (WB 6.2021, S. 30). Nach anderen Angaben hat alleine der somalische Rote Halbmond (SRCS) im Jahr 2022 fast 65.000 Kinder unter einem Jahr gegen Masern, Di phterie, Pertussis, Tetanus, Hepatitis B, Tuberkulose und Poliomyelitis geimpft (SRCS 2023); im Jahr 2023 waren es fast 47.000 Kinder (SRCS 2024). In Somaliland sind 13 % der Kinder voll immunisiert (MoHDSL 2022). Gewalt: Somalia ist laut UN eines der gefährlichsten Länder für Kinder weltweit (HO 12.7.2023). Es werden seitens sämtlicher Konfliktparteien Missbräuche bzw. Menschenrechtsverletzun gen gegen Kinder verübt (ÖB Nairobi 10.2024). Die schweren Verbrechen umfassen Rekrutie rungen, Verwendung als Kindersoldaten (v. a. durch al Shabaab), Tötungen und Verstümmelun gen sowie geschlechtsspezifischer Gewalt (UNSC 10.10.2022). Somalia findet sich unter den Ländern mit der größten Zahl an Verbrechen an Kindern weltweit (SPC 9.2.2022). Es kommt u. a. zu Tötung, Verstümmelung, Rekrutierung und Kampfeinsatz sowie sexueller Gewalt (HRW 11.1.2024). Im Zeitraum 6.10.2023-24.1.2024 wurden 567 Fälle von schweren Menschenrechts verletzungen an Kindern dokumentiert, 454 Kinder waren betroffen. Hauptbetroffen waren die 269

Regionen Hiiraan (101), Bay (99) und Lower Shabelle (71). Für ca. 58 % der Vergehen war al Shabaab verantwortlich (UNSC 2.2.2024). Im Zeitraum 25.1.-23.5.2024 waren es 769 Fälle schwerer Menschenrechtsverletzungen mit 614 betroffenen Kindern. Al Shabaab war für 71 % der Vorfälle verantwortlich, unbekannte Täter für weitere 17 %. Für 10 % tragen Sicherheitskräfte und für 4 % Clanmilizen die Verantwortung (UNSC 3.6.2024). Es ist davon auszugehen, dass die tatsächliche Zahl an schweren Verbrechen an Kindern weit höher liegt als die der gemeldeten und verifizierten Fälle (SPC 9.2.2022). Missbrauch und Vergewaltigung von Kindern sind ernste Probleme. Es gibt keine bekannten Anstrengungen der Bundesregierung oder von Regionalregierungen, dagegen vorzugehen (US DOS 22.4.2024). Es kommt immer wieder zur Verhaftung und Inhaftierung von Kindern, denen Verbindungen zu al Shabaab nachgesagt werden (HRW 11.1.2024). Bei der Verhaftung und während Haftstrafen werden Kinder mitunter wie Erwachsene behandelt (HRW 29.3.2024). Im Zeitraum Jänner bis März 2022 wurden 194 Fälle von Kindesentführungen dokumentiert. In 192 dieser Fälle wird al Shabaab als Täter genannt (UNSC 10.10.2022). Kinder, die aus armen (meist ländlichen) Gegenden zu besser situierten Verwandten in die Städte geschickt werden, können manchmal auch Opfer von Menschenhandel werden (Sahan/SWT 22.7.2022). Es sind Fälle bekannt, wo Jugendliche auf Wunsch ihrer Eltern oder anderer Familienange höriger durch staatliche Stellen in eine Art „ Schutzhaft“ genommen werden, um sie von dem gefährlichen Versuch der Migration auf die Golfhalbinsel oder nach Europa abzuhalten (AA 23.8.2024). Mündigkeit / Ehealter: Generell sind die Ausdrücke „ Erwachsener“ und „ Kind“ in Somalia umstritten und de facto gesetzlich nicht explizit definiert (SPA 1.2021). Die Übergangsverfassung definiert Kinder als Personen, die jünger als 18 Jahre alt sind (USDOS 22.4.2024). Traditionell werden Kinder allerdings ab einem Alter von 15 Jahren als volljährig erachtet (LIFOS 16.4.2019, S. 10/12). Eine Quelle bietet hierzu eine Übersicht: 270

Quelle 26: Omer2/ALRC 17.3.2023 Nach anderen Angaben ist im somalischen Zivilrecht (Familiengesetz) für eine Eheschließung ein Mindestalter von 15 Jahren vorgesehen (ICG 27.6.2019b, S. 8). Dieses Gesetz wird aber nicht angewendet und kann als außer Kraft erachtet werden (Omer2/ALRC 17.3.2023). Die Scharia, in der kein Mindestalter vorgesehen ist, hat das Familiengesetz weitestgehend ersetzt (Sahan/SWT 19.9.2022). Und in der Scharia und im Xeer wird kein quantitativer, sondern ein qualitativer Maßstab herangezogen - nämlich die geistige und körperliche Reife beider Ehe partner. Da es kein akzeptiertes gesetzliches Mindestalter für die Eheschließung gibt, ist die Entscheidung darüber, wann eine Person als volljährig gilt, eine höchst subjektive Angelegen heit, die ausschließlich im Ermessen des beteiligten Imams liegt (Omer2/ALRC 17.3.2023). Mit einer Änderung der Übergangsverfassung im März 2024 wurden nun allerdings zwei Daten festgelegt: a)das Alter der Reife (age of maturity) liegt bei 15 Jahren; b)das Alter der Straf mündigkeit (age of responsibility) liegt bei 18 Jahren. Dies widerspricht internationalen - auch von Somalia ratifizierten - Standards (HRW 29.3.2024). Das Jugendstrafgesetz von Puntland hingegen definiert Kinder als Personen unter 14 Jahren (USDOL 26.9.2023). Kinderehe: Die Kinderehe ist verbreitet (USDOS 22.4.2024; vgl. UNHRCOM 6.5.2024; FH 2024b), und die Regierung unternimmt nichts dagegen (USDOS 22.4.2024). Es wird berichtet, dass 17 % der Mädchen vor ihrem 15. und 36 % vor ihrem 18.Geburtstag verheiratet werden (HRW 29.3.2024). Oft werden Mädchen zwischen zehn und 16 Jahren verheiratet, wobei die Eheschließung von den Eltern schon sehr früh vereinbart wird. Die eigentliche Hochzeit erfolgt, wenn das Mädchen die Pubertät erreicht (FIS 5.10.2018, S. 27). Mitunter bleibt eine Ehefrau nach 271

erfolgter Eheschließung noch einige Zeit - bis hin zu über einem Jahr - bei ihrer eigenen Familie wohnhaft, auch dies kann vertraglich zwischen den Familien vereinbar werden. Ist eine Ehe geschlossen, kann das Delikt der Unzucht mit Minderjährigen strafrechtlich nicht mehr verfolgt werden (Omer2/ALRC 17.3.2023). Nach anderen Angaben gibt es ohnehin kein gesetzliches Mindestalter für Geschlechtsverkehr (USDOS 22.4.2024). Manche Eltern ermutigen Mädchen zur Heirat, in der Hoffnung, dass die Ehe dem Kind finanzielle und soziale Absicherung bringt und dass dies die eigene Familie finanziell entlastet. Zudem wird eine frühe Ehe als kulturelle und religiöse Anforderung wahrgenommen (UNFPA 14.4.2022). In einem unsicheren Umfeld – etwa in einem IDP-Lager – wollen Eltern u. U. auch die Tochter vor Missbrauch schützen, indem sie diese verheiraten (Sahan/SWT 19.9.2022). Bei einer Umfrage im Jahr 2017 gaben ca. 60 % der Befragten an, dass eine Eheschließung für Mädchen unter 18 Jahren kein Problem ist (AV 2017, S. 36). Laut einer Quelle gibt es bei der Einstellung der Gesellschaft gegenüber Kinderehen einen langsamen Wandel hin zu einem Ehealter von 18 Jahren (Omer2/ALRC 17.3.2023). Kinderarbeit: In den Gesetzen und Regulierungen zu Kinderarbeit gibt es erhebliche Lücken. Kinder arbeiten in der Landwirtschaft, als Hirten, am Bau - etwa beim Zerkleinern von Steinen, im Haushalt oder auf der Straße, als Träger oder Khat-Verkäufer. Zudem werden Kinder von staatlichen und nicht-staatlichen Kräften rekrutiert (USDOL 26.9.2023). Kinder werden von ihren Familien und Gemeinschaften als unentgeltliche Arbeitskräfte eingesetzt. Trotz verschiedener Initiativen wurden in Somalia kaum Fortschritte bei der Beseitigung der Kinderarbeit erzielt (Sa han/SWT 28.7.2023). Denn Kinderarbeit wird nicht als unmoralisch oder illegal erachtet und ist daher relativ normal. Die meisten Kinder beginnen bereits in jungen Jahren zu arbeiten, man che von ihnen können Arbeit und Schule kombinieren (Sahan/SWT 22.7.2022). Im ländlichen Somalia ist von Kinderarbeit - meist Feldarbeit oder nomadische Hilfstätigkeit - auszugehen. In urbanen Zentren werden Kinder als Dienstboten und für einfache Erledigungen eingesetzt. Für Puntland und Somaliland gilt dies nur eingeschränkt (AA 23.8.2024). Adoption: Der Konflikt hat viele Waisen hervorgebracht. Zudem wurden viele Kinder von ihren biologischen Eltern getrennt (UNHCR 22.12.2021a, S. 49f). Trotzdem gibt es weder eine offiziel le, staatlich geregelte Adoptionspraxis noch ein staatliches Adoptionsrecht (ÖB Nairobi 10.2024; vgl. Omer2/ALRC 17.3.2023; UNHCR 22.12.2021a, S. 23). Auch die Scharia sieht keine völlige Adoption vor, bevorzugt dagegen ein System der Vormundschaft (Kafala). Dabei übernimmt der Vormund alle Pflichten eines Elternteils, allerdings ohne die Rechtsbindung des Kindes zur biologischen Familie zu brechen (UNHCR 22.12.2021a, S. 23). Dementsprechend ist auch eine Adoption in Somalia viel eher mit einer Pfleg- bzw. Vormundschaft (foster care) gleichzusetzen. Diese stellt in der somalischen Kultur einen relativ informellen Prozess dar und stellt i.d.R. auf einen relativ engen familiären Bezug ab. Nur selten gibt es eine Pflegschaft außerhalb der erwei terten Familie auf Ebene des Subclans (Omer2/ALRC 17.3.2023). Nach anderen Angaben ist es durchaus üblich, dass somalische Familien ihre Kinder bei engen oder entfernten Verwandten unterbringen (Omer2/ALRC 17.3.2023; vgl. SIDRA 6.2019a, S. 4). Oder aber Kinder werden vom Land in die Stadt geschickt, um dort von einer besseren Sicherheitslage und humanitärer Hilfe zu profitieren. Manche Kinder finden dann Unterstützung bei entfernten Verwandten oder 272

Angehörigen des Subclans (MBZ 6.2023). Viele Kinder und Waisen wachsen innerhalb der weiteren Verwandtschaft auf. Dabei gibt es keine rechtliche Vereinbarung, die Unterbringung erfolgt relativ formlos (UNHCR 22.12.2021a, S. 24/49f; vgl. ÖB Nairobi 10.2024; MBZ 6.2023). Die leiblichen Eltern behalten ihre gesetzlichen Rechte, solange das Kind minderjährig ist. In der Praxis ist es aber nicht ungewöhnlich, dass diese vorübergehenden Pflegevereinbarungen langfristig bestehen bleiben und nach dem Tod der Eltern dauerhaft werden. Die neuen Eltern bleiben im Sinne der Scharia aber immer Pflegeeltern und gleichzeitig an die dort gegebenen Pflichten (Waqaaf) gebunden. Auch im Xeer ist eine vollständige Adoption nach westlichem Vorbild nicht möglich, es gibt nur die Pflegschaft. Dies bringt relevante rechtliche und prakti sche Konsequenzen für das angenommene Kind mit sich. Dieses behält seine Geburtsidentität, insbesondere den Namen des leiblichen Vaters (sofern dieser bekannt oder offensichtlich ist) und nicht den Nachnamen der annehmenden Familie. Zudem werden angenommene Kinder gemäß Scharia im Erbrecht benachteiligt (Omer2/ALRC 17.3.2023). Offizielle Dokumente sind zumeist nicht vorzufinden bzw. könnten diese einer Urkundenüberprü fung nicht standhalten (ÖB Nairobi 10.2024). Das Innenministerium kann Vormundschaftsanträ ge auf Einzelfallbasis prüfen, dies umfasst grundlegende Identitäts-, Sicherheits- und Schutz kontrollen, geschieht aber ohne klare gesetzliche oder behördliche Grundlage. Weder in der Scharia noch im Xeer noch in zivilrechtlichen oder behördlichen Verfahren gibt es hinsicht lich einer Registrierung einer Adoption oder Vormundschaft formelle Anforderung. Ein solcher Vorgang wird lediglich zur Kenntnis genommen. Somalia ist keine Vertragspartei des Haager Adoptionsübereinkommens (Omer2/ALRC 17.3.2023). Folglich wird in Somalia selbst keine Urkunde hinsichtlich einer Pflegschaft benötigt, für besondere Zwecke kann aber eine „ decla ration of responsibility“ ausgestellt werden (SOMEN/STDOK/SEM 4.2023). Siehe dazu auch: Dokumente / Süd-/Zentralsomalia, Puntland Hinsichtlich Kindern im Waisenhaus – etwa bei SOS-Kinderdorf – bei welchen es keine Aufzeich nungen über einen der beiden Elternteile gibt, tritt faktisch der Staat als „ kollektiver Elternteil“ in Erscheinung. Dieser übernimmt bis zur Volljährigkeit (18 Jahre) die volle Entscheidungsbefugnis über die rechtlichen Interessen des Kindes (Omer2/ALRC 17.3.2023). In Mogadischu gibt es einige Waisenhäuser; allerdings funktioniert dieses System nicht ausreichend und daher gibt es in der Stadt auch viele Straßenkinder (FIS 7.8.2020b, S. 38). In Somaliland gibt es die Mög lichkeit, dass ein Gericht einem (Waisen-)kind eine neue Identität gibt, damit dieses Dokumente erhalten und die Schule besuchen kann (UNHCR 22.12.2021a, S. 49). Der SRCS hilft landesweit bei der Suche nach Angehörigen und bietet im Zuge dessen auch gratis Telefonmöglichkeiten an, um zu Verwandten Kontakt aufnehmen zu können. Im Jahr 2023 hat der SRCS 541 von ihren Familien vermisste Personen aufgespürt (SRCS 2024; vgl. ICRC 26.2.2024). Bildung: 1991 ist das formelle Bildungssystem kollabiert (BS 2024). Seitdem ist das Bildungs system durch niedrige Einschreibungsquoten, schlechte Unterrichtsqualität, eine unzureichende Anzahl qualifizierter Lehrer und unzureichende Ressourcen gekennzeichnet. UNICEF bewertet das somalische Bildungssystem als eines der schlechtesten der Welt (Sahan/SWT 17.4.2023; 273
