2025-09-08-coi-cms-laenderinformationen-pakistan-version-8-9527
Dieses Dokument ist Teil der Anfrage „Länderinformationsblätter“
Personen freizusprechen. Außerdem unterliegen Gerichte der unteren Instanzen Berichten zu folge nicht nur dem Druck höherrangiger Richter, sondern auch dem prominenter, wohlhabender und politischer Persönlichkeiten. Gleichzeitig wird berichtet, dass viele Richter und Angestellte der unteren Instanzen korrupt sind und z. B. Gerichtsbedienstete Zahlungen für eine Beschleu nigung von Verwaltungsverfahren verlangen. Die Oberen Gerichte und der Supreme Court genießen bei der Bevölkerung und den Medien höhere Glaubwürdigkeit (USDOS 23.4.2024). Es hängt im Einzelfall vom Engagement einzelner Polizisten, Richter und sonstiger Entschei dungsträger ab, ob Behörden ihrer Verpflichtung zum Schutz der Bürger nachkommen. Struktu relle Mängel gepaart mit regelmäßig religiös-motivierter Einflussnahme schmälern die Effizienz und Effektivität der Judikative erheblich. Für den Ausgang eines Verfahrens sind oft nicht-juris tische Faktoren wie Macht und Einfluss der Prozessteilnehmer entscheidend (AA 21.10.2024). Nach Einschätzung des UK Home Office ist somit zwar ein funktionierendes Strafjustizsystem vorhanden, doch ist dessen Leistungsfähigkeit durch die genannten Probleme begrenzt (UKHO 24.5.2023). Das World Justice Project reiht Pakistan für das Jahr 2023 auf Platz 129 von 142 (WJP 23.10.2024). Im Jahr zuvor nahm es Platz 130 ein (WJP 23.10.2023). De facto spielt in weiten Landesteilen das staatliche Recht für die meisten Pakistaner kaum eine Rolle (AA 21.10.2024). In der Folge wird vor allem in ländlichen Gebieten weiterhin auch auf informelle Rechtsprechungssysteme, wie traditionelles Stammesrecht, zurückgegriffen (USDOS 23.4.2024; vgl. BS 19.3.2024, AA 21.10.2024). Quellen ■ AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (21.10.2024): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Pakistan, https://www.ecoi.net/en/file/local/2117687/Deutschland. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Pakistan, 21.10.2024.pdf, Zugriff 27.12.2024 ■ AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (21.9.2023): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Pakistan, https://www.ecoi.net/en/file/local/2097816/Auswärtige s_Amt,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Islamischen_Republik _Pakistan_,_21.09.2023.pdf, Zugriff 13.10.2023 [Login erforderlich] ■ BBE - Bulletin of Business and Economics (25.3.2024): View of An Analysis of the Legal System: A comparative Study in the Context of Pakistan and the UK - Vol. 13 No. 1 , https://bbejournal.com/B BE/article/view/713/646, Zugriff 3.4.2025 ■ BS - Bertelsmann Stiftung (19.3.2024): BTI 2024 Pakistan Country Report, https://bti-project.org/fil eadmin/api/content/en/downloads/reports/country_report_2024_PAK.pdf, Zugriff 19.4.2024 ■ FES - Friedrich-Ebert-Stiftung (12.2023): State of Democracy in Pakistan 2023 - One Step Forward, Two Steps Backward?, https://library.fes.de/pdf-files/bueros/pakistan/20811.pdf, Zugriff 2.5.2024 ■ FH - Freedom House (5.2024a): Pakistan - Freedom in the World 2024, https://freedomhouse.org/c ountry/pakistan/freedom-world/2024, Zugriff 10.5.2024 ■ FH - Freedom House (5.2024b): Freedom in the World 2024 - Pakistani Kashmir, https://freedomh ouse.org/country/pakistani-kashmir/freedom-world/2024, Zugriff 30.5.2024 ■ HRW - Human Rights Watch (11.1.2024): World Report 2024 - Pakistan Events of 2023, https: //www.hrw.org/world-report/2024/country-chapters/pakistan, Zugriff 2.5.2024 ■ Islamic Law Blog - Islamic Law Blog (26.2.2025): Islamic and Common Law Principles in Pakistan: An Analysis of Unstated Influences, https://islamiclaw.blog/2025/02/26/islamic-and-common-law-pri nciples-in-pakistan-an-analysis-of-unstated-influences , Zugriff 3.4.2025 ■ ÖB Islamabad - Österreichische Botschaft Islamabad [Österreich] (19.12.2023): Asylländerbericht Pakistan 64

■ UKHO - United Kingdom Home Office [United Kingdom] (24.5.2023): Country policy and information note: actors of protection, Pakistan, May 2023, https://www.gov.uk/government/publications/pakista n-country-policy-and-information-notes/country-policy-and-information-note-actors-of-protection-p akistan-may-2023-accessible , Zugriff 2.5.2024 ■ USDOS - United States Department of State [USA] (23.4.2024): 2023 Country Reports on Human Rights Practices Pakistan, https://www.state.gov/reports/2023-country-reports-on-human-rights-p ractices/pakistan/, Zugriff 24.4.2024 ■ WJP - World Justice Project (23.10.2024): WJP Rule of Law Index - Pakistan, https://worldjusticepr oject.org/rule-of-law-index/country/2024/Pakistan , Zugriff 3.4.2025 ■ WJP - World Justice Project (23.10.2023): Rule of Law Index Pakistan, https://worldjusticeproject.or g/rule-of-law-index/country/2023/Pakistan , Zugriff 26.4.2024 4.1 Militär- und Anti-Terrorismusgerichte Letzte Änderung 2025-05-09 13:57 Verfahren vor Militärgerichten werden durch den Pakistan Army Act 1952 ermöglicht. Er ist primär auf Militärangehörige und andere Personen im Dienste der Armee anwendbar (ICJ 9.2024). Die pakistanischen Militärgerichte entsprechen jedoch weder den pakistanischen noch den interna tionalen Standards für faire Verfahren vor unabhängigen und unparteiischen Gerichten (HRW 11.1.2024; vgl. ICJ 9.2024). So sind die Richter Offiziere des Militärs und Teil der Exekutive. Sie genießen weder Unabhängigkeit von der militärischen Kommandostruktur noch benötigen sie eine juristische Ausbildung. Es gibt kein Recht auf ein öffentliches Verfahren, auf Berufung vor einem Zivilgericht oder auf eine schriftliche Urteilsverkündung mit Erläuterung der Beweis last. Auch die Todesstrafe kann nach einem solchen Gerichtsverfahren vollstreckt werden (ICJ 9.2024). Sektion 2 des Gesetzes erlaubt es, Zivilisten in bestimmten Fällen vor Militärgerichten anzukla gen, und zwar unter anderem bei Vergehen gegen den Official Secrets Act, wie Spionage. Einige Zivilisten wurden in den letzten Jahren auch unter diesen Vergehen vor Militärgerichten ange klagt und verurteilt, wie Idrees Khattak, ein prominenter paschtunischer Menschenrechtsaktivist (ICJ 9.2024). Diese Gerichtsbarkeit von Zivilsten vor Militärgerichten unter dem Pakistan Army Act unterschei det sich von jener vorübergehend ausgedehnten Militärgerichtsbarkeit, die in der Zeit ab Jänner 2015 durch Verfassungsänderungen ermöglicht wurde und im März 2019 auslief (ICJ 9.2024). Sie war eine Reaktion auf den Terrorangriff der pakistanischen Taliban, derTehreek-e-Taliban Pakistan, auf eine vom Militär geführte Schule in Peschawar (ÖB Islamabad 19.12.2023). Für Verfahren gegen Personen, die terroristischer Aktivitäten und konfessionell motivierter Ge walt beschuldigt werden, ist per Gesetz außerdem die Einsetzung spezieller Anti-Terrorismus gerichte - Anti Terrorism Courts, ATCs - weiterhin möglich. Vor regulären Gerichten müssen Verdächtige innerhalb von sieben Arbeitstagen nach ihrer Verhaftung vorgeführt werden, die ATCs können diese Frist verlängern. Menschenrechtsaktivisten kritisieren dieses parallele Sys tem als anfälliger für politische Manipulationen. Hinzu kommt, dass die Behörden einige Fälle mit großer öffentlicher Aufmerksamkeit an die Anti-Terrorismusgerichte weitergeleitet haben, auch wenn diese keinen Bezug zum Terrorismus hatten (USDOS 23.4.2024). 65

Mit dem 2014 in Kraft getretenen Protection of Pakistan Act werden die Rechte von Polizei, Nach richtendiensten, paramilitärischen Kräften und Militär gegenüber mutmaßlichen pakistanischen und ausländischen militanten Kämpfern erweitert. Das Gesetz sieht u. a. die Möglichkeit der präventiven Festnahme ohne richterlichen Beschluss für bis zu 90 Tage vor. Im Strafverfahren müssen Angeklagte ihre Unschuld beweisen (AA 21.10.2024). In Khyber Pakhtunkhwa hat das Militär außerdem die Befugnis, Zivilisten auf unbestimmte Zeit ohne Anklage in Internierungslagern festzuhalten, Besitz zu beschlagnahmen, Operationen durchzuführen und Gefangene allein aufgrund der Aussage eines einzigen Soldaten zu verur teilen. Das Militär ist in dieser Provinz immun vor Strafverfolgung durch Zivilgerichte. Die Armee ist dort auch von der Verpflichtung entbunden, Familien über die Verhaftung von Angehörigen zu informieren. Dadurch können jene eine Verhaftung auch nicht vor Zivilgerichten anfechten. Trotz des Überganges zu einer zivilen Rechtsdurchsetzung in den ehemaligen Federally Ad ministered Tribal Areas behält das Militär weiterhin die Kontrolle über seine Haftzentren in der Provinz (USDOS 23.4.2024). Unmittelbar nach den schweren Ausschreitungen von Anhängern der Pakistan Tehreek-e-Insaf im Mai 2023 genehmigten die Regierung und die Nationalversammlung wieder die Anklage von Zivilisten vor Militärgerichten (FH 5.2024a; vgl. HRCP 8.5.2024). Dies betraf jene Demonstran ten, die beschuldigt wurden, Militäreinrichtungen angegriffen zu haben (HRW 11.1.2024; vgl. ICJ 9.2024) [siehe dazu Politische Lage]. Gegen - je nach Quelle - 103 (ICJ 9.2024; HRCP 30.4.2025) oder 105 Zivilisten wurde in der Folge vor Militärgerichten Anklage erhoben (AI 4.2025). Menschenrechtsaktivisten kritisierten dieses Vorgehen, und im Oktober 2023 wurde es auch vom Supreme Court als nicht verfassungsgemäß erklärt. Die Entscheidung wurde al lerdings im Dezember 2023 von einer anderen Bank des Supreme Courts aufgehoben, sodass die Fälle weiterhin vor Militärgerichten stehen (AA 21.10.2024; vgl. FH 5.2024a). Laut Amnesty International wurden von den über 100 vor Militärgerichten angeklagten Zivilisten im Dezember 2024 85 zu Haftstrafen zwischen zwei und zehn Jahren verurteilt (AI 4.2025). Laut der NGO Human Rights Commission of Pakistan wurden 25 Zivilisten vor Militärgerichten verurteilt (HRCP 30.4.2025). Ein Teil der mutmaßlich in die gewalttätigen Ausschreitungen Involvierten ist auch unter Ter roranschuldigungen vor Anti-Terrorgerichten anklagt. Laut Aussagen der Behörden wurden die Angeklagten mittels Geofencing überführt (HRCP 8.5.2024). Quellen ■ AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (21.10.2024): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Pakistan, https://www.ecoi.net/en/file/local/2117687/Deutschland. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Pakistan, 21.10.2024.pdf, Zugriff 27.12.2024 ■ AI - Amnesty International (4.2025): Human rights in Pakistan 2024/25, https://www.amnesty.org/en /location/asia-and-the-pacific/south-asia/pakistan/report-pakistan , Zugriff 3.5.2025 ■ FH - Freedom House (5.2024a): Pakistan - Freedom in the World 2024, https://freedomhouse.org/c ountry/pakistan/freedom-world/2024, Zugriff 10.5.2024 66

■ HRCP - Human Rights Commission of Pakistan (30.4.2025): State of Human Rights in 2024, https: //hrcp-web.org/hrcpweb/wp-content/uploads/2020/09/2025-State-of-Human-Rights-in-2024.pdf , Zugriff 4.5.2025 ■ HRCP - Human Rights Commission of Pakistan (8.5.2024): State of Human Rights in 2023, https: //hrcp-web.org/hrcpweb/wp-content/uploads/2020/09/2024-State-of-human-rights-in-2023-EN.pdf , Zugriff 10.5.2024 ■ HRW - Human Rights Watch (11.1.2024): World Report 2024 - Pakistan Events of 2023, https: //www.hrw.org/world-report/2024/country-chapters/pakistan, Zugriff 2.5.2024 ■ ICJ - International Commission of Jurists (9.2024): Submission of the International Commission of Jurists in Advance of the Examination of the Second Report of Pakistan under Article 40 of the International Covenant on Civil and Political Rights, https://www.icj.org/wp-content/uploads/2024/11 /ICJ_Pakistan_ICCPR_submission_16-September-2024.pdf, Zugriff 11.4.2025 ■ ÖB Islamabad - Österreichische Botschaft Islamabad [Österreich] (19.12.2023): Asylländerbericht Pakistan ■ USDOS - United States Department of State [USA] (23.4.2024): 2023 Country Reports on Human Rights Practices Pakistan, https://www.state.gov/reports/2023-country-reports-on-human-rights-p ractices/pakistan/, Zugriff 24.4.2024 4.2 Informelle Rechtsprechung und islamisch geprägte Rechtsnormen Letzte Änderung 2025-06-05 08:04 Vor allem in ländlichen Gebieten Pakistans bestehen weiterhin informelle Rechtsprechungssys teme, die auf traditionellem Stammesrecht beruhen (ÖB Islamabad 19.12.2023; vgl. USDOS 23.4.2024). Bei den Stämmen von Khyber Pakhtunkhwa z. B. ist dies der Kodex des Paschtun wali (ÖB Islamabad 19.12.2023; vgl. EB 19.11.2024a, STDOK/VQ AFGH 4.2024). Ausgehend von solchen traditionellen Normen werden Ratsversammlungen, Jirgas genannt, abgehalten, wobei diese in Punjab auch Panchayats, Faislo in Sindh und Sulh in Belutschistan genannt wer den. Ihr Zweck ist es, Streitigkeiten und Konflikte gemeinschaftlich und zügig durch die Dorf- bzw. Stammesältesten zu schlichten (PJCriminology 28.9.2023). Ohne Schlichtung können Streitig keiten bei den paschtunischen Stämmen auch in clanweite und generationenübergreifende Blut fehden münden (EB 19.11.2024a). In Sindh und Punjab urteilen auch Großgrundbesitzer und andere Führungspersönlichkeiten in derartigen Ratsversammlungen (ÖB Islamabad 19.12.2023; vgl. USDOS 23.4.2024, PJCriminology 28.9.2023). Auch Hindus halten Panchayats ab (ÖB Islamabad 19.12.2023). Frauen sind von der Teilnahme an traditionellen Jirgas ausgeschlossen, auch wenn sie Opfer, Beschuldigte oder Zeugen eines Verbrechens sind (PIDE 5.2024; vgl. GlobalRR 9.2024). Im Jahr 2019 erklärte der Supreme Court Jirgas für verfassungswidrig und beschränkte deren Anwendung auf private Streitentscheidung auf freiwilliger Basis, sofern diese nicht die Jurisdik tion ordentlicher Gerichte usurpieren. Nichtsdestotrotz sind sie weiterhin gängige Praxis (ÖB Islamabad 19.12.2023; vgl. PIDE 5.2024). Mitunter genießen sie auch die Unterstützung der lokalen Polizei und Richter. Sie bieten aber keinen institutionalisierten Rechtsschutz und führen häufig zu Menschenrechtsverletzungen. So verhängen sie Stammesstrafen, die Geldstrafen sein können, aber auch Freiheitsstrafen und manchmal sogar die Todesstrafe (USDOS 23.4.2024). Ihre Entscheidungen sind oft diskriminierend gegenüber Frauen und Mädchen. Insbesondere können junge Frauen und Mädchen dabei Opfer bestimmter Praktiken der Streitschlichtung werden (USDOS 23.4.2024; vgl. PIDE 5.2024). So ist es besonders bei Blutfehden in Punjab 67

und in der Provinz Khyber Pakhtunkhwa verbreitet, diese durch die Tradition von badla-a-sulh, wanni oder swara zu beenden. Dabei werden junge Frauen, oft sind es auch Mädchen unter 18 Jahren, an eine verfeindete Familie als Blutzoll übergeben und mit einem Mann dieser Familie zwangsverheiratet (ÖB Islamabad 19.12.2023; vgl. Aurat 7.12.2023, PJCriminology 28.9.2023). Um solchen Praktiken entgegenzuwirken und Frauen ihre Rechte gegenüber den Stammes normen zu sichern, gründeten 2012 weibliche Aktivistinnen in Swat in Khyber Pakhtunkhwa die erste Frauen-Jirga - Khwendo-Jirga oder Sister’s Council. Seitdem arbeitet diese u. a. auch daran, derartige Fälle aufzuarbeiten, Dispute zu lösen und Opfer zu retten. Die Jirga stieß zwar zu Beginn auf starke Anfeindungen, viele schätzen sie allerdings mittlerweile (GlobalRR 9.2024). Das staatliche Rechtssystem stellte mit dem Criminal Law (Third Amendment) Act 2011 die Praxis der Übergabe von Frauen oder Mädchen zur Streitbeilegung unter Strafe von bis zu sieben Jahren (ÖB Islamabad 19.12.2023; vgl. ITACEC o.D.). Mehr noch erklärte auch der Federal Shariat Court 2021 die Praxis des swara als unvereinbar mit den Lehren des Islams. Trotzdem ist sie noch immer verbreitet (ÖB Islamabad 19.12.2023; vgl. PJCriminology 28.9.2023, USDOS 23.4.2024). Gleichzeitig bietet das pakistanische Strafgesetzbuch selbst auch durch die Anwendung be stimmter islamischer Rechtsprinzipien Lücken in der Strafverfolgung traditionell begründeter Ver brechen. So ermöglicht es die Qisas & Diyat-Verordnung unter dem pakistanischen Recht den Erben eines Mordopfers, dem Täter zu verzeihen (CBEC 12.2023; vgl. Cheema M 11.10.2023). Dieses Konzept der Diyat, der Vergebung, steht z. B. einer strafrechtlichen Verfolgung von Ehrenmorden entgegen (ÖB Islamabad 19.12.2023). Unter diesem Begriff werden Morde zu sammengefasst, die aufgrund der Beschuldigung, unmoralische Taten begangen zu haben, verübt werden (DAWN 31.12.2024; vgl. CBEC 12.2023, UCGHI 4.6.2024). Oft erfolgt so ein Mord nach dem Urteil eines traditionellen Rates (CBEC 12.2023; vgl. UCGHI 4.6.2024). Der Großteil der Fälle dürfte auf Frauen entfallen (ÖB Islamabad 19.12.2023). Bei der Verfolgung solcher Fälle im staatlichen Rechtssystem bot das Konzept der Diyat dem ausführenden Famili enmitglied eines Ehrenmordes die Möglichkeit, dass ihm durch die Familie verziehen wird und er damit straffrei ausgehen konnte (DAWN 31.12.2024). Um diese Lücke zu schließen, wurde 2016 ein Änderungsgesetz zum Strafgesetzbuch, das Criminal Law (Amendment) (Offences in the Name of Pretext of Honour) Act, eingeführt. Es definiert Ehrenmorde als Verbrechen nach dem muslimischen Konzept des Fasad-fil-arz als Gefahr für die Gesellschaft und damit als Verbre chen gegen den Staat (CBEC 12.2023; vgl. DAWN 31.12.2024). Damit ist die Anwendung von Diyat bei Ehrenmorden ausgeschlossen (DAWN 31.12.2024; vgl. ÖB Islamabad 19.12.2023). Die Implementierung dieses auch „Anti Honour Killing Act“ genannten Gesetzes läuft allerdings nur schleppend, und es steht ihr unter anderem die große Bedeutung des informellen Justiz wesens in vielen ländlichen und von Stammesstrukturen geprägten Teilen Pakistans entgegen (ÖB Islamabad 19.12.2023). Auch das staatliche Recht bietet weiterhin Schlupflöcher, indem es ohne ein Geständnis oder einen starken Beweis schwierig ist, vor Gericht einen Mord als Ehren mord zu verurteilen [siehe auchRelevante Bevölkerungsgruppen / Betroffene von Blutfehden, Ehrverbrechen und anderen schädlichen traditionellen Praktiken] (DAWN 31.12.2024). 68

Unabhängig von Ehrenmorden ermöglicht das Rechtsprinzip des Diyat auch Personen in ein flussreichen Positionen, sich legal einer Strafverfolgung zu entziehen und durch Bedrohung oder Bestechung die Hinterbliebenen des Opfers zum Verzeihen oder Annahme des Blutgeldes zu nötigen (DAWN 5.5.2023). Im Zuge der Islamisierung des Rechtssystems unter der Militärdiktatur Zia-ul-Haqs wurden 1979 „ islamische“ Gesetze, wie die Offence of Zina (Enforcement of Hudood) Ordinance 1979 eingeführt. Diese legte die Strafen für freiwilligen außerehelichen Geschlechtsverkehr - Zina - und Vergewaltigung fest (LSE 13.3.2023). Für Ehebruch konnte dies auch die Steinigung sein. Insgesamt wurden vier Hudood-Verordnungen eingeführt, welche die bisherigen Strafgesetz bestimmungen für bestimmte Bereiche ersetzt haben. Die weiteren betrafen Alkoholkonsum, Diebstahl und Raub sowie falsche Anschuldigung bzgl. Zina (RegioTribune 30.12.2023). Die Strafverfolgung für Ehebruch war allerdings überproportional hoch (ILS 6.2021) und diskrimi nierend gegenüber Frauen (RegioTribune 30.12.2023; vgl. PakLagal 6.3.2024). Zwar wurde nie jemand tatsächlich anhand des Gesetzes gesteinigt, doch barg die Anzeige einer Vergewalti gung für die Frau die Gefahr aufgrund einer falschen Anschuldigung verurteilt zu werden, wenn sie keine ausreichenden Beweise hatte (WRAN 30.9.2024). Aufgrund der Schwere der Straf tat musste diese laut Hudood Verordnung von vier männlichen Augenzeugen bezeugt werden (PakLagal 6.3.2024). Gleichzeitig bestand für Frauen bei einer Schwangerschaft die Gefahr, des außerehelichen Geschlechtsverkehrs angeklagt zu werden. Dies führte zu einigen Tausend Anklagen gegen Frauen (WRAN 30.9.2024). 2006 wurden mit dem Frauenschutzgesetz die Hu dood-Verordnungen modifiziert und Ehebruch und Vergewaltigung wieder unter das Strafgesetz gestellt (EUAA 17.12.2024; vgl. DAWN 4.9.2024). Ehebruch gilt seitdem laut Strafgesetzbuch als Unzucht und kann mit einer mehrjährigen Freiheitsstrafe und/oder einer Geldstrafe geahndet werden (AA 21.10.2024). Seit der Reform sind die diesbezüglichen Anzeigen zurückgegan gen (ILS 6.2021). Strafrechtliche Verfahren aufgrund von Untreue sind sehr selten (SRishta 26.6.2024). Zuletzt sorgte eine Verurteilung u. a. für Ehebruch von Imran Khan und seiner Ehe frau aufgrund der Nicht-Einhaltung der Wartezeit nach einer Scheidung zu sieben Jahren Haft für Aufsehen. Das Urteil wurde allerdings aufgehoben (DAWN 4.9.2024; vgl. APP 7.2024). Die übrigen Hudood-Verordnungen sind weiterhin parallel zum auf britischem Recht basierenden Strafgesetz anwendbar, kommen tatsächlich allerdings kaum zum Einsatz (FR24 20.8.2021). So ist Alkohol für Muslime verboten und die Konsumation kann nach den Hudood-Verordnungen mit Auspeitschung bestraft werden, doch wurde diese Bestrafungsform seit dem Ende des Zia- Regimes [1988] nicht mehr angewandt. Während Nicht-Muslime ganz offiziell Lizenzen für den Kauf und die Herstellung von Alkohol erhalten, ist Alkoholkonsum auch unter Muslimen weit verbreitet. Es wird geschätzt, dass 10 Millionen Menschen in Pakistan Alkohol konsumieren, davon 90 Prozent Muslime (JPMedA 17.11.2024). Quellen ■ AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (21.10.2024): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Pakistan, https://www.ecoi.net/en/file/local/2117687/Deutschland. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Pakistan, 21.10.2024.pdf, Zugriff 27.12.2024 69

■ APP - Associated Press of Pakistan (7.2024): Imran Khan, Bushra Bibi acquitted in iddat case, https://www.app.com.pk/national/imran-khan-bushra-bibi-acquitted-in-iddat-case , Zugriff 3.4.2025 ■ Aurat - Aurat Foundation (7.12.2023): More Than Shelter Needs Assessments of Dar Ul Amans & Shelters In Pakistan, https://www.af.org.pk/pub_files/1701949202.pdf, Zugriff 13.2.2025 ■ CBEC - Centre of Biomedical Ethics and Culture of the Sindh Institute of Medical Sciences (12.2023): Honor Killings and Pakistan - Continuing Challenges, In: Bioethics Links - Volume 19 Issue 2 , https:// siut.org/bioethics/pdf/December 2023 Newsletter.pdf, Zugriff 3.5.2024 ■ Cheema M - Cheema, Muhammad Ans Shahzad (11.10.2023): Critiquing the Qisas and Diyat Laws in Pakistan: An Analysis of Legal Ambiguities and Legislative Oversight, https://papers.ssrn.com/so l3/papers.cfm?abstract_id=4598993, Zugriff 3.5.2024 ■ DAWN - DAWN Newspaper (31.12.2024): ‘Honour’ crimes continued to persist in 2024, threatening Pakistani women’s lives, https://www.dawn.com/news/1881836, Zugriff 13.2.2025 ■ DAWN - DAWN Newspaper (4.9.2024): Piety paradox: How iddat became the casualty of a turf war over Pakistan’s family laws, https://www.dawn.com/news/1856394, Zugriff 2.4.2025 ■ DAWN - DAWN Newspaper (5.5.2023): Qisas & diyat laws, https://www.dawn.com/news/1750977, Zugriff 3.5.2024 ■ EB - Encyclopaedia Britannica (19.11.2024a): Pashtun - Definition, People, Culture, Religion, https: //www.britannica.com/topic/Pashtun, Zugriff 25.11.2024 ■ EUAA - European Union Agency for Asylum (17.12.2024): Pakistan - Country Focus, https://euaa.e uropa.eu/sites/default/files/publications/2024-12/2024_12_EUAA_COI_Report_Pakistan_Country _Focus.pdf, Zugriff 7.3.2025 ■ FR24 - France 24 (20.8.2021): Sharia law around the world, https://www.france24.com/en/live-new s/20210820-sharia-law-around-the-world , Zugriff 3.4.2025 ■ GlobalRR - Global Regional Review (9.2024): GRR - Global Regional Review, https://www.grrjou rnal.com/fulltext/examining-the-role-of-womenjirga-in-mitigating-cultural-challenges-faced-by-w omen-a-case-study-of-khwendojirga-in-swat-khyber-pakhtunkhwa-pakistan-since-2013 , Zugriff 3.4.2025 ■ ILS - Islamic Law and Society (6.2021): Sexualization of Shari’a: Application of Islamic Criminal (Hudud) Laws in Pakistan, https://brill.com/view/journals/ils/29/3/article-p319_005.xml , Zugriff 3.4.2025 ■ ITACEC - Idara-e-Taleem-o-Aagahi Centre of Education and Consciousness (o.D.): Manual - Laws for Women Protection in Pakistan, https://itacec.org/creating_spaces/document/Laws_for_Women _Protection_in_Pakistan.pdf, Zugriff 13.2.2025 ■ JPMedA - Journal of the Pakistan Medical Association (17.11.2024): Examining the effects of alcohol prohibition Laws in Pakistan on public health - Vol 74 No.12, https://jpma.org.pk/index.php/public_h tml/article/view/20410/3818, Zugriff 2.4.2025 ■ LSE - London School of Econonomics and Political Science (13.3.2023): No Law but God’s Law: Islam and the Pakistani Legal System, https://blogs.lse.ac.uk/southasia/2023/03/13/no-law-but-god s-law-islam-and-the-pakistani-legal-system , Zugriff 29.3.2025 ■ ÖB Islamabad - Österreichische Botschaft Islamabad [Österreich] (19.12.2023): Asylländerbericht Pakistan ■ PakLagal - Pakistan Legal Awareness Trust (6.3.2024): Den rechtlichen Rahmen für die Zina-Be strafung verstehen, https://pakistanlawyer.com/de/articles/story/understanding-the-legal-framework -for-zina-punishment , Zugriff 29.3.2025 ■ PIDE - Pakistan Institute of Development Economics (5.2024): Reviving the Jirga System as Altern ative Dispute Resolution (ADR) in Pakistan’s Tribal Areas, https://pide.org.pk/research/reviving-the -jirga-system-as-alternative-dispute-resolution-adr-in-pakistans-tribal-areas , Zugriff 28.3.2025 ■ PJCriminology - Pakistan Journal of Criminology (28.9.2023): Jirga and Panchayat for the Resolution of Family Disputes in Pakistan: An Analytical Prospects - Vol 15, No 3, July-September 2023, https://www.pjcriminology.com/wp-content/uploads/2023/09/6.-Jirga-and-Panchayat-for-the-Resol ution.pdf, Zugriff 3.5.2024 ■ RegioTribune - The Regional Tribune (30.12.2023): The Unseen Effects: Assessing Zia’s Socio- Economic Policies in Pakistan, https://submissions.regionaltribune.com/index.php/trt/article/view/1 1/9, Zugriff 29.3.2025 ■ SRishta - Simple Rishta (26.6.2024): Extra Marital Affairs in Pakistan, https://simplerishta.com/extra -marital-affairs-in-pakistan , Zugriff 2.4.2025 70

■ STDOK/VQ AFGH - Staatendokumentation des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl [Öster reich], Journalist aus Afghanistan [Vertrauliche Quelle 1] (4.2024): Themenbericht der Staatendoku mentation: Pashtuns and the Pashtunwali, https://www.ecoi.net/en/document/2106990.html, Zugriff 10.4.2024 ■ UCGHI - University of California Global Health Institute (4.6.2024): The Public Health Crisis of Honor Killings and Gender-Based Violence in Pakistan, https://ucghi.universityofcalifornia.edu/news/public -health-crisis-of-honor-killings-and-gender-based-violence-pakistan , Zugriff 13.2.2025 ■ USDOS - United States Department of State [USA] (23.4.2024): 2023 Country Reports on Human Rights Practices Pakistan, https://www.state.gov/reports/2023-country-reports-on-human-rights-p ractices/pakistan/, Zugriff 24.4.2024 ■ WRAN - Woman rights Articles And News (30.9.2024): Woman rights Articles And News - Reflection of Islamisation on Women in Pakistan and Crime against women - Wattpad, https://www.wattpad.co m/1480245564-woman-rights-articles-and-news-reflection-of , Zugriff 31.3.2025 4.3 Rechtliche und politische Transformation in den KP Tribal Districts (ehemalige FATA) Letzte Änderung 2025-06-05 08:05 Rechtliche Eingliederung Per Verfassungsänderungsgesetz vom Mai 2018 wurden die Federally Administered Tribal Areas (FATA) mit der Provinz Khyber Pakhtunkhwa (KP) zusammengelegt und damit die verfassungs mäßigen Bürgerrechte auf ihre ungefähr 5 Millionen Einwohner ausgedehnt (USIP 6.4.2021; vgl. Express Tribune 8.12.2024). Erklärtes Ziel der pakistanischen Bundesregierung ist es, die ehemaligen Stammesgebiete vollständig in das staatliche Rechtssystem einzugliedern (AA 21.9.2023). Es findet ein fortlaufender Übergang zu einer zivilen Rechtsdurchsetzung bzw. Exe kutive statt (USDOS 23.4.2024). Der Aufbau funktionierender staatlicher Strukturen steht jedoch noch am Anfang (AA 21.9.2023). Die Fortschritte schreiten nur schleppend voran (Global ECCO 10.1.2025; vgl. TFT 7.5.2024). Die damaligen FATA waren zwar als Gebiet Pakistans anerkannt, aber ein Sonderstatus des Rechtswesens im Rahmen der Frontier Crimes Regulation (FCR) durch die Verfassung legiti miert (USIP 6.4.2021). Unter der FCR war - den Stammestraditionen entsprechend - kollektive Verantwortung und kollektive Bestrafung für Verbrechen die Norm. Der Einzelne wurde als inte graler Bestandteil seiner Stammesgemeinschaft behandelt und seine Handlungen dem Stamm zugerechnet. Der Stammesrat, die Jirga, war die einzige Form der Rechtsprechung [siehe auch Rechtsschutz, Justizwesen / Informelle Rechtsprechung und islamisch geprägte Rechtsnormen]. Dabei gab es weder formelle Ermittlungen oder Gerichtsverfahren im Sinne des modernen Straf rechtssystems noch eine Trennung von Exekutive und Judikative. Verhaftungen wurden selten durchgeführt. Es wurde von den Stämmen erwartet, dass sie die Täter vor die Jirga stellen (Express Tribune 8.12.2024). Nach der Aufhebung der FCR trat die FATA Interim Governance Regulation 2018 in Kraft, die als fünfjährige Übergangsregelung für den Aufbau eines dem gesamtstaatlichen Rechtssystem entsprechenden Gerichtssystems geplant war. Sie wurde allerdings vom Obersten Gericht der Provinz KP noch im Oktober 2018 aufgehoben. Es entschied, dass die Gesetze und Rechte der Provinz sofort vollumfänglich anzuwenden sind (USIP 6.4.2021). Darüber hinaus erklärte ein Urteil des Supreme Courts die Arbeitsweise der traditionellen Jirgas für verfassungswidrig. 71

Er begrenzte die möglichen Entscheidungen von Jirgas rein auf Vermittlung, Schlichtung und Verhandlung von zivilen Streitigkeiten und nur unter Einverständnis aller Parteien (USDOS 23.4.2024; vgl. ÖB Islamabad 19.12.2023). Die Umsetzung der Eingliederung in das pakistanische Rechts- und Justizsystems begann ab März 2019 (USIP 6.4.2021). Die sieben Agencies und sechs Frontier Regions wurden in Distrik te und Sub-Divisionen von KP umstrukturiert. Sie werden jetzt als Khyber Pakhtunkhwa Tribal Districts (KPTDs), Stammesdistrikte (EASO 10.2021; vgl. Nation 16.12.2022) oder als Newly Merged Districts, NMDs, bezeichnet (HRCP 28.12.2023). Die FCR wurde durch das pakistani sche Standard-Rechtssystem ersetzt, die Rechtssprechung auf reguläre Gerichte übertragen (Global ECCO 10.1.2025). Mit der Zusammenlegung sind alle Gesetze, Regeln und Verfahren der Strafjustiz des Landes in den Stammesdistrikten anwendbar (Express Tribune 8.12.2024). Diese Ausdehnung des staatlichen Rechtssystems garantiert damit nun theoretisch auch die in der Verfassung verankerten Grundrechte, eine individuelle strafrechtliche Haftung, Ermittlungen und Strafverfolgung gemäß der Strafprozessordnung und Strafen gemäß dem Strafgesetzbuch (Global ECCO 10.1.2025). Aufbau der Polizeikapazitäten Dies erfordert auch innerhalb der bisherigen polizeilichen Kräfte die Entwicklung neuer Vor gehensweisen, Kompetenzen und Verantwortlichkeiten (Global ECCO 10.1.2025). Die lokalen Sicherheitskräfte wurden zwar in die Polizei von Khyber Pakhtunkhwa eingegliedert (Express Tribune 15.9.2021). Doch die tatsächliche Integration stellt nach wie vor eine Herausforderung dar (USIP 6.4.2021; vgl. Global ECCO 10.1.2025). Die höchstens als halbformell zu bezeich nenden polizeilichen Kräfte der damaligen FATA bestanden auf der einen Seite aus den Levies, die von der staatlichen Verwaltung ernannt und von der Regierung mit Waffen und Munition ausgestattet wurden. Unter dem jeweiligen Political Agent einer Agency erfüllten sie sowohl Exe kutiv- als auch Justizbefugnisse. Auf der anderen Seite der polizeilichen Struktur standen die Khasadars, die als Ehrenamt im Auftrag ihrer Stämme bewaffnet dienten. Für sie gab es keine Einstellungsvoraussetzungen außer ihrer Stammeszugehörigkeit. Ihre Aufgaben waren „ Phat ak“ - Checkpointdienste - und „ Badarga“ - Sicherheitsdienst, Begleitschutz und Verhaftungen (Global ECCO 10.1.2025; vgl. Express Tribune 8.12.2024). Die Levies und Khasadars wussten damit wenig über die Aufgaben einer Polizei in einem for mellen Rechts- und Justizsystem (Global ECCO 10.1.2025; vgl. Express Tribune 8.12.2024). Das Vorgehen bei und die Registrierung von Straftaten, die Sicherung von Beweismitteln, die Sammlung kriminalpolizeilicher Erkenntnisse, die Vorbereitung von Anklageschriften oder die Zeugenaussage vor Gericht sind den meisten weiterhin fremd. Oft fehlen Kenntnisse der Ge setze und Vorschriften, das Verständnis für den öffentlichen Dienst und für das Konzept der individuellen Rechte (Express Tribune 8.12.2024). Insgesamt 25.981 frühere Levies und Khasadars wurden in die Polizei von KP integriert und begannen mit der Ausbildung (UNDP 5.7.2022; vgl. Global ECCO 10.1.2025, Express Tribune 8.12.2024). Auch das Militär ist in die Ausbildung involviert und führte unter anderem Schulungen in Waffengebrauch, Such- und Anti-Terrorismus-Operationen sowie Methoden zum Aufspüren 72

von Minen und Sprengsätzen durch (ISPRPAK 11.2.2022). 2022 war die Grundausbildung von 25.000 Personen abgeschlossen und es begannen - in Partnerschaft mit dem UN Development Programme, UNDP, - spezialisierte Ausbildungen in Kernaufgaben der Polizei im Polizeitrai ningszentrum im Khyber District, das mit Unterstützung der EU betrieben wird (UNDP 5.12.2022). Doch viele in der neuen Polizeitruppe sind Analphabeten oder dem nahe. Die Polizei von Khyber Pakhtunkhwa hält durchgehend Schulungen für sie ab (Express Tribune 8.12.2024). Sie erhal ten regelmäßige Übungen in Polizeieinsätzen (Global ECCO 10.1.2025). Im Kapazitätsaufbau gibt es damit signifikante Fortschritte. Im Umgang mit der Waffe schneiden die Einheiten gut ab. Wenn es um anspruchsvollere Polizeitechniken, wie Ermittlungstaktik, Kriminalitätskontrolle und Terrorbekämpfung geht, können sie mit den regulären Polizeikräften nicht mithalten (HRCP 28.12.2023). Die Dienststruktur stellt ebenfalls eine große Herausforderung dar. Der Dienstrang innerhalb der Khasadars entsprach dem Status im Stamm. Viele genießen nun hohe Ränge bei der Polizei rein aufgrund dieses Status, sodass es vorkommt, dass Analphabeten ihre besser ausgebildeten Untergebenen befehligen (Express Tribune 8.12.2024; vgl. Global ECCO 10.1.2025). Um den Widerstand der Levis und Khasadars zu entgegnen, wurden außerdem Zugeständnisse gemacht, welche die Professionalisierung erschweren, wie eine Sperre von Versetzungen. Die Verlegung von Beamten aus anderen Gebieten in die Stammesdistrikte für die professionelle Untersuchung von Straftaten und die Kompetenzentwicklung ihrer Kollegen stößt oft ebenfalls auf starken Widerstand. Viele haben die Zusammenlegung nicht vollständig akzeptiert und hoffen auf eine Umkehr. Die Polizeibeamten halten auch selbst Demonstrationen, Protestaktionen oder Jirgas für ihre Forderungen ab (Express Tribune 8.12.2024). Gleichzeitig stehen die Polizeikräfte vor den sozialen und politischen Herausforderungen der Region. Das im Aufbau befindliche Strafrechtssystem ist nicht nur mit Terrorismus konfrontiert, sondern auch mit Stammesmobilisierungen und Fehden (Global ECCO 10.1.2025). Auch wenn nun dieselben Gesetze anzuwenden sind, sind die Stammesgebiete nicht wie der Rest des Landes, sondern geschlossene Gesellschaften der festen Traditionen und des Stammesstol zes (Express Tribune 8.12.2024). Die Ordnung der Stämme basiert weiterhin auf dem Prinzip des gemeinschaftlichen Handelns und der kollektiven Verantwortung. Bei Verhaftungen kann die Polizei auf den Widerstand des Stammes stoßen (Global ECCO 10.1.2025). Meist ist für diesen weiterhin die Jirga der Weg der Rechtssprechung (Express Tribune 8.12.2024). Diese sind noch immer weit verbreitet (USDOS 23.4.2024). Die Polizei nimmt deshalb in der Regel selbst an Jirgas teil, will sie z. B. jemanden verhaften oder gegen eine Fehde vorgehen. Die Stammesdistrikte haben, so wird gemutmaßt, die höchste Dichte an Waffen pro Haushalt in Pakistan; in fast jedem Distrikt ist die Polizei den Stämmen waffenmäßig unterlegen (Express Tribune 8.12.2024). Der Polizei mangelt es an Personal, Ausbildung, Ausrüstung und Infrastruktur - wie Büros, Polizeistationen und Unterkünfte sowie an Schutzvorrichtungen für diese (Express Tribu ne 8.12.2024). Polizisten stellen oft ihre eigenen Waffen bereit (TFT 7.5.2024; vgl. HRCP 73
