2025-09-05-coi-cms-laenderinformationen-tuerkei-version-10-d827
Dieses Dokument ist Teil der Anfrage „Länderinformationsblätter“
■ Rudaw - Rudaw Media Network (29.10.2021): Kurdish man arrested in Turkey for saying ‘Kurdistan’, https://www.rudaw.net/english/middleeast/turkey/291020211, Zugriff 24.1.2024 ■ SCF - Stockholm Center for Freedom (28.10.2024): Kurdish family assaulted for playing Kurdish music at wedding - Stockholm Center for Freedom, https://stockholmcf.org/kurdish-family-assault ed-for-playing-kurdish-music-at-wedding , Zugriff 5.11.2024 ■ SCF - Stockholm Center for Freedom (12.8.2024): Turkish prison bans Kurdish language in phone calls with relatives - Stockholm Center for Freedom, https://stockholmcf.org/turkish-prison-bans-kur dish-language-in-phone-calls-with-relatives , Zugriff 13.8.2024 ■ SCF - Stockholm Center for Freedom (9.5.2024): Turkey allocates only 10 out of 20,000 teaching positions for Kurdish language - Stockholm Center for Freedom, https://stockholmcf.org/turkey-alloc ates-only-10-out-of-20000-teaching-positions-for-kurdish-language , Zugriff 4.9.2024 ■ SCF - Stockholm Center for Freedom (11.9.2023): Turkey sentences founding member of Kurdish women’s association to more than 7 years in prison - Stockholm Center for Freedom, https://stockh olmcf.org/turkey-sentences-founding-member-of-kurdish-womens-association-to-more-than-7-yea rs-in-prison, Zugriff 25.1.2024 ■ Standard - Standard, Der (10.12.2013): „ Kurdistan“ löst Schlägerei im türkischen Parlament aus, https://www.derstandard.at/story/1385170500709/kurdistan-loest-schlaegerei-im-tuerkischen-parla ment-aus, Zugriff 24.1.2024 ■ TR724 - TR724 (12.8.2024): Şırnak Cezaevi’nde Kürtçe yasağı iddiası: Açık görüşte mahpusların ailelerine sarılması da yasak - Tr724, https://www.tr724.com/sirnak-cezaevinde-kurtce-yasagi-iddia si-acik-goruste-mahpuslarin-ailelerine-sarilmasi-da-yasak , Zugriff 13.8.2024 ■ UKHO - United Kingdom Home Office [United Kingdom] (10.2023b): Country Policy and Information Note Turkey: Kurds [Version 4.0], https://www.ecoi.net/de/dokument/2100047.html , Zugriff 23.1.2024 ■ USDOS - United States Department of State [USA] (22.4.2024): Country Report on Human Rights Practices 2023 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2024/02/528267_TU ̈RKIYE-2023-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 23.4.2024 [Login erforderlich] ■ USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023): Country Report on Human Rights Practices 2022 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2023/03/415610_TU ̈RKIYE-2022-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 29.9.2023 ■ VOA - Voice of America (9.5.2024): Kürtçe için 10 öğretmen atanacak olmasına tepki: Anadilde eğitime engel olunmaya çalışılıyor [Reaktion auf die Ernennung von 10 Lehrern für die kurdische Sprache: „ Ein Versuch, den Unterricht in der Muttersprache zu verhindern“], https://d33vxfhewnqf 4z.cloudfront.net/a/kurtce-icin-on-ogretmen-atanacak-olmasina-tepki-anadilde-egitime-engel-olu nmaya-calisiliyor/7604089.html, Zugriff 4.9.2024 ■ WKI - Washington Kurdish Institute (3.5.2022): Kurdistan’s Weekly Brief May 3, 2022, https://dckurd .org/2022/05/03/kurdistans-weekly-brief-may-3-2022/ , Zugriff 22.1.2024 ■ WKI - Washington Kurdish Institute (22.3.2022): Kurdistan’s Weekly Brief March 22, 202, https: //dckurd.org/2022/03/22/kurdistans-weekly-brief-march-22-2022/ , Zugriff 22.1.2024 18.2 Roma Letzte Änderung 2025-08-06 13:00 Lebenssituation Armut und soziale Ausgrenzung sind unter den Roma weit verbreitet. Die Mehrheit ist Diskri minierungen ausgesetzt, insbesondere in den Bereichen Bildung, Beschäftigung und Wohnen. Die Covid-19-Pandemie und die Erdbeben vom 6.2.2023 verschärften bestehende strukturelle Probleme der Roma. So hatten Roma besondere Schwierigkeiten, Zugang zu Erdbebenhilfe zu erlangen. Für die meisten Roma sind Diskriminierung und mangelnder Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und formeller Beschäftigung alltägliche Erfahrungen. Die Lage im Süd osten des Landes, etwa für die syrischen Dom-Flüchtlinge [Anm.: Die Dom werden fallweise als eigene Gruppe, fallweise zu den Roma gezählt] um Gaziantep, dürfte besonders prekär sein. Aufgrund der Wirtschaftskrise und der massiven Teuerungswelle brachte auch das Ende 269

der pandemiebedingten Einschränkungen keine Erleichterung für die Roma-Gemeinschaften, deren Großteil in tiefer Armut lebt (ÖB Ankara 4.2025, S. 41; vgl. MRG 12.4.2024, S.2, US DOS 22.4.2024, S.68, EC 30.10.2024, S.35). Roma-Aktivisten in der Region haben zahlreiche Zwangsräumungen aus Notunterkünften, die Verweigerung des Zugangs zu Unterkünften, Le bensmitteln und Wasser für Familien, die überdies von freiwilligen Helfern als „ dreckige Zigeu ner“ bezeichnet wurden, dokumentiert. Hilfslieferungen in Romasiedlungen sollen eingeschränkt worden sein, sodass diese Gemeinschaften ohne Zugang zur Grundversorgung am Rande des Hungertodes gestanden hätten (ERRC 6.3.2023; vgl. MRG 12.4.2024, S.2). Die informelle Wirtschaft wirkt sich nachteilig auf die Systeme der sozialen Sicherheit und Wohl fahrt aus, wovon die Roma-Gemeinschaft besonders betroffen ist (EC 30.10.2024, S. 68). Die schätzungsweise 2,5 bis 5 Millionen Roma, die in der Türkei leben, leiden unter extremer Armut und sind größtenteils hoch verschuldet (Duvar 13.1.2022). Die nationale Roma-Strategie 2023-2030 und der dazugehörige Aktionsplan werden laut Euro päischer Kommission (EK) umgesetzt. Zum ersten Mal wurden lokale Aktionspläne für Roma erstellt. Die Strategie muss der EK zufolge jedoch in Bezug auf Initiativen und konkrete Maß nahmen zur Bekämpfung von unmittelbarer Diskriminierung und Vorurteilen verbessert werden (EC 30.10.2024, S. 35). Das durchschnittliche Haushaltseinkommen von Roma betrug nur ein Drittel des offiziellen Min destlohns für 2022. Laut jüngster Studie im Zuge der COVID-19-Pandemie hatten 77,5 % der befragten Personen mit Arbeitslosigkeit zu kämpfen. Von denjenigen, die Arbeit hatten, arbeite ten die meisten befragten Roma als Reinigungskräfte, bei der Müllabfuhr oder als städtisches Personal. Andere arbeiteten als Wasser- oder Blumenverkäufer oder bettelten auf der Straße (Duvar 13.1.2022). Obgleich der Zugang zur Gesundheitsversorgung für Roma grundsätzlich gewährleistet ist, können sich viele von ihnen aufgrund steigender Kosten für Medikamente und Transport die Behandlungskosten nicht mehr leisten. Bei der Ausstellung der für den kostenlosen Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen notwendigen Gesundheitskarte an Roma treten immer wieder Probleme auf (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 38; vgl. EC 6.10.2020, S. 7, 41). Für aus Syrien geflüchtete Dom ist es schwieriger, da die meisten von ihnen keine Ausweise haben (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 38; vgl. GfbV 2.9.2022). Roma leben im Allgemeinen in sehr schlechten Wohnverhältnissen (EC 8.11.2023, S.43). Insge samt hat sich die Wohnsituation nicht verbessert, und der plötzliche Anstieg der Wohnungspreise trifft vor allem sozial schwache Roma-Familien (EC 8.11.2023, S.43; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S.42). Im Erdbebengebiet lebten Roma-Familien häufig in schlechten Wohnverhältnissen und waren daher mit am stärksten betroffen. In informellen Siedlungen lebende Roma sind regel mäßig mit Zwangsräumungen konfrontiert, ohne dass ihnen eine alternative Unterkunft zur Verfügung gestellt wird. (ÖB Ankara 4.2025, S.42). Roma-Kinder 270

Der Zugang der Kinder zu Bildung und Schulwesen hat sich durch die Pandemie weiter ver schlechtert. Die pandemiebedingte Umstellung auf Fernunterricht von März 2020 bis Juli 2021 wirkte sich negativ auf die Teilnahme von Roma-Kindern am Unterricht aus, weil die meisten aus sozial benachteiligten Familien stammen, die keinen Internet-Zugang haben und nicht über die für den Unterricht benötigten elektronischen Geräte verfügen. Der Drogenmissbrauch unter Roma-Kindern nahm während der Pandemie insbesondere im Südosten der Türkei zu. Frühe Ehen werden weiterhin eingegangen. Den öffentlichen Schulen in den von Roma bewohnten Vierteln fehlt es an Personalressourcen und Ausrüstung, was wiederum zu hohen Schulab bruchsquoten unter Roma-Kindern führt. Wo Roma-Kinder in bessere Schulen gehen, sind sie immer wieder Mobbing durch Mitschüler und Lehrer ausgesetzt. Viele Roma-Kinder werden in spezielle Bildungseinrichtungen für Kinder mit Lernschwächen statt in Regelschulen geschickt. Diese Kinder erhalten falsche Diagnosen über ihren psychischen Zustand und werden als be hindert registriert. Familien, die ihre Kinder in diese Sonderschulen schicken, erhalten eine zusätzliche Beihilfe. Diese haben somit Eigeninteressen, da die staatlichen Zuschüsse mit der Anzahl eingeschriebener Kinder steigen (ÖB Ankara 4.2025, S.41). Gewalt gegen Roma Neben diskriminierender Behandlung sind Roma auch Hassreden, regelmäßigen Hassattacken und Polizeigewalt ausgesetzt (ÖB Ankara 4.2025, S.42; vgl. MRG 12.4.2024, S. 2). Roma wer den von Angehörigen der Mehrheitsgruppen als Diebe, Plünderer und Brandstifter bezeichnet. Die Spannungen zwischen den Mehrheitsgruppen und den Roma erreichten nach dem Erdbeben an vielen Orten das Ausmaß körperlicher Gewalt (MRG 12.4.2024, S. 2; vgl. ERRC 5.7.2023). Während der strukturelle Rassismus gegen die Erdbebenopfer anhielt, nutzten rechtsextreme Gruppen die Situation, um zu Gewalt gegen Roma-Gemeinschaften (sowie gegen syrische Flüchtlinge) aufzustacheln. Zahlreiche Angriffe gegen Roma wurden im ganzen Land registriert, oft direkt provoziert von Rechtsextremisten, die Roma öffentlich der Plünderung beschuldigten (MRG 12.4.2024, S. 2). Beispiele: Im Jänner 2023 wurden der Rom Resül Bayır und sein Sohn vor einem Strafgericht in Istanbul wegen „ Beleidigung“ von drei Polizeibeamten und „ Widerstand gegen die Staatsgewalt“ angeklagt. Die beiden hatten zuvor Anzeige gegen vier Polizeibeamte wegen Folter erstattet (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 38). Am 11.5.2023 wurde der 33-jährige Semih Gürler von einem Polizei beamten erschossen, als er draußen auf dem Balkon eines Hauses im Stadtteil Konak in Izmir stand. Am 26.6.2023 griff eine Gruppe von Polizeibeamten eine Hochzeitsfeier im Roma-Viertel Çerkezköy in der Stadt Tekirdağ in der Marmara-Region an. Die Polizei behauptete, dass die Feierlichkeiten zu lange gedauert hätten. Sie verwarnten die Hochzeitsgäste in beleidigendem Ton und schlugen dann mit Schlagstöcken auf die Anwesenden ein. Viele der Verletzten ließen sich in einem Krankenhaus ärztlich untersuchen und bestätigten, dass ihre Verletzungen von der Polizei zugefügt wurden. Die Beamten wollten nicht, dass ihre Handlungen aufgezeichnet wer den, und griffen diejenigen an, die versuchten, den Vorfall zu filmen. Der zweite Vorfall ereignete sich in Hendek in der Stadt Sakarya in der Nähe von Istanbul, wo zahlreiche Roma, darunter auch Ferdi Sepetçioğlu, der Vorsitzende des Roma-Verbandes Hendek, von der Polizei und dem Sicherheitspersonal verprügelt wurden. Ein Video dieses zweiten Vorfalls zeigt Menschen, 271

die vor schlagstockschwingenden uniformierten Beamten fliehen, während diese gewaltsam in die Menge eindringen (ERRC 5.7.2023). Die Familie des inhaftierten Vahdet Akın hat nach seinem „ verdächtigen“ Tod im Dezember 2023 im geschlossenen Gefängnis Maltepe Nr. 1 in Istanbul ihren Anwalt eingeschaltet, welcher behauptete, Akın sei eindeutig geschlagen worden, und in den Untersuchungsberichten seien Verletzungen an seinem linken Auge und seinen Beinen festgestellt worden. Einer offiziellen Erklärung zufolge starb Akın an einer Hirnblutung. Der Staatsanwalt hat den Fall als „ verdächtigen Todesfall“ eingestuft und nach Angaben des Anwalts die erforderlichen Ermittlungen eingeleitet (ERRC 9.1.2024; vgl. SCF 4.12.2023). Quellen ■ Duvar - Duvar (13.1.2022): Roma in Turkey suffer from lack of work, hunger, and extreme poverty, study shows, https://www.duvarenglish.com/roma-in-turkey-suffer-from-lack-of-work-hunger-and-e xtreme-poverty-study-shows-news-60135 , Zugriff 25.1.2024 ■ EC - Europäische Kommission (30.10.2024): Türkiye 2024 Report [SWD(2024) 696 final], ht tps://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/document/download/8010c4db-6ef8-4c85-aa06- 814408921c89_en?filename=Türkiye Report 2024.pdf, Zugriff 5.11.2024 ■ EC - Europäische Kommission (8.11.2023): Türkiye 2023 Report [SWD (2023) 696 final], https:// neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/system/files/2023-11/SWD_2023_696 Türkiye report.pdf, Zugriff 9.11.2023 ■ EC - Europäische Kommission (6.10.2020): Turkey 2020 Report [SWD (2020) 355 final], https: //ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/turkey_report_2020.pdf , Zugriff 17.10.2023 ■ ERRC - European Roma Right Centre (9.1.2024): Romani prisoner in Istanbul jail: bruised, battered, then dead in custody - European Roma Rights Centre, http://www.errc.org/news/romani-prisoner-i n-istanbul-jail-bruised-battered-then-dead-in-custody , Zugriff 25.1.2024 ■ ERRC - European Roma Right Centre (5.7.2023): Roma in Turkey: More Police Brutality - European Roma Rights Centre, http://www.errc.org/news/roma-in-turkey-more-police-brutality , Zugriff 25.1.2024 ■ ERRC - European Roma Right Centre (6.3.2023): Romani, Domari, and Abdal earthquake victims face discrimination and hate crimes in Turkey - European Roma Rights Centre, https://www.errc.org/n ews/romani-domari-and-abdal-earthquake-victims-face-discrimination-and-hate-crimes-in-turkey , Zugriff 10.9.2024 ■ GfbV - Gesellschaft für bedrohte Völker (2.9.2022): Die syrischen Dom: Eine unbekannte Volksgrup pe auf der Flucht, https://gfbvblog.com/2017/02/17/die-syrischen-dom-eine-unbekannte-volksgrup pe-auf-der-flucht , Zugriff 2.2.2024 ■ MRG - Minority Rights Group (12.4.2024): Report on the monitoring of discrimination experienced by Dom, Abdal and Roma people in Southern Türkiye following the 2023 earthquake, https://minorityri ghts.org/app/uploads/2024/04/serkan-baysak-dom-abdal-and-roma-people-earthquake-report.pdf , Zugriff 25.11.2024 ■ ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Österreich] (4.2025): Asylländerbericht 2024 – ÖB An kara, https://www.ecoi.net/en/file/local/2125282/TUER_ÖB Bericht_2025_04.pdf, Zugriff 13.5.2025 ■ ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Österreich] (28.12.2023): Asylländerbericht zur Tür kei, Dezember 2023, https://www.ecoi.net/en/file/local/2102906/TUER_ÖB Bericht_2023_12_28.pdf, Zugriff 8.1.2024 [Login erforderlich] ■ SCF - Stockholm Center for Freedom (4.12.2023): Turkish prosecutors to investigate suspicious death of inmate - Stockholm Center for Freedom, https://stockholmcf.org/turkish-prosecutors-to-inv estigate-suspicious-death-of-inmate , Zugriff 25.1.2024 ■ USDOS - United States Department of State [USA] (22.4.2024): Country Report on Human Rights Practices 2023 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2024/02/528267_TU ̈RKIYE-2023-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 23.4.2024 [Login erforderlich] 272

19 Relevante Bevölkerungsgruppen 19.1 Frauen Letzte Änderung 2025-08-06 13:32 Allgemeiner Rechtsrahmen, Rechtsdefizite und die generelle Lage der Frauen Die türkische Gesetzgebung verankert die Gleichheit von Mann und Frau in Art. 10 der Ver fassung (ÖB Ankara 4.2025, S.49; vgl. USDOS 22.4.2024, S. 65f., DFAT 16.5.2025, S. 28). Frauen sind in fast allen Bereichen des öffentlichen Lebens vertreten. Dennoch bestehen nach wie vor erhebliche soziale, kulturelle und religiöse Hindernisse für die Gleichstellung der Ge schlechter, und Männer dominieren in der Regel die Machtpositionen (DFAT 16.5.2025, S. 28; vgl. USDOS 22.4.2024, S. 65f.). Frauen sehen sich de facto mit Hindernissen für die politische Teilhabe konfrontiert und sind in der Politik und in Führungspositionen der Regierung weiterhin unterrepräsentiert. Nach den Wahlen 2023 hielten Frauen etwa 20 % der Sitze in der Großen Nationalversammlung inne, ein leichter Anstieg gegenüber den Wahlen 2018 (FH 26.2.2025, B4; vgl. DFAT 16.5.2025, S. 28). Frauen leiden Berichten zufolge unter geschlechtsspezifischer Diskriminierung und Gewalt, und trotz eines relativ fortschrittlichen rechtlichen Umfelds und der historischen Anerkennung der Gleichstellung der Geschlechter war der staatliche Schutz für Frauen nicht immer verfügbar oder wirksam (DFAT 16.5.2025, S. 28; vgl. USDOS 22.4.2024, S. 65f.). Gewalt gegen Frauen sowie sexuelle Übergriffe, inklusive Vergewaltigung - auch in der Ehe - sind unter Strafe gestellt (ÖB Ankara 4.2025, S.49), und zwar mit zwei bis zehn Jahren Frei heitsentzug bei Verurteilung wegen versuchten sexuellen Missbrauchs und mindestens zwölf Jahren bei Verurteilung wegen Vergewaltigung oder sexueller Nötigung (USDOS 22.4.2024, S.63). Allerdings ist Gewalt gegen Frauen, inklusive Ehrenmorde, Zwangsehen sowie häusliche Gewalt, nach wie vor weit verbreitet, da es keine wirksamen und abschreckenden Strafen gibt, die Gesetze nur unzureichend umgesetzt werden und die Qualität der verfügbaren Unterstüt zungsdienste gering ist. Auch die Zahl der Femizide ist nach wie vor hoch. Tief verwurzelte kulturelle Normen und fortbestehende Geschlechterstereotypen behindern weiterhin Fortschrit te bei der Gleichstellung der Geschlechter (EC 30.10.2024, S. 34; vgl.ÖB Ankara 4.2025, S.49, USDOS 22.4.2024, S.63). Zwar wurden in den letzten 15 Jahren zahlreiche neue Gesetze - insbesondere 2012 das Gesetz Nr. 6284 über den Schutz der Familie und die Verhütung von Gewalt - und politische Maßnah men zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen verabschiedet, inklusive der Bekämpfung häuslicher Gewalt, doch gibt es in fast allen Bereichen der Sozialpolitik, die mit Frauenrechten zu tun haben - von sexueller Gewalt über häusliche Gewalt bis hin zu Menschen handel - erhebliche Umsetzungslücken, die weiterhin eine große Herausforderung darstellen. So werden im Strafgesetzbuch nicht alle Arten von Gewalt gegen Frauen als Straftaten de finiert. Zwangsheirat oder psychische Gewalt werden nicht ausdrücklich unter Strafe gestellt. Besorgniserregend ist laut Sonderberichterstatterin über Gewalt gegen Frauen und Mädchen der Vereinten Nationen auch die Unvereinbarkeit und mangelnde Harmonisierung der natio nalen Gesetze der Türkei mit ihren internationalen Menschenrechtsverpflichtungen (OHCHR 273

27.7.2022a, S. 4). Das UN-Komitee für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau (CEDAW- Komitee) begrüßte 2022 die bedeutenden Rechtsreformen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, und dass das Gesetz Nr. 6284 aus dem Jahr 2012 über den Schutz der Familie und die Verhütung von Gewalt gegen Frauen einen wichtigen Rahmen für die Gewaltprävention und den Schutz der Opfer bildet. CEDAW stellte jedoch mit Besorgnis fest, dass sowohl der Geltungsbereich der bestehenden Rechtsvorschriften als auch ihre Umsetzung noch Lücken aufweisen (UN-CEDAW 12.7.2022, S. 7f.) bzw. die Umsetzung und Durchset zung der bestehenden Rechtsmittel, wie sie im Schutzgesetz vorgesehen sind, weiterhin zu wünschen übrig lässt (MBZ 2.2025a, S. 79). Der Europäische Ausschuss für soziale Rechte (European Committee of Social Rights) des Europarates stellte in seinem Länderbericht 2023 zur Türkei fest, dass die Situation in der Türkei nicht mit Artikel 16 der Charta vereinbar ist, und zwar weil nicht nachgewiesen wurde, dass Frauen in der Gesetzgebung und in der Praxis ein angemessener Schutz vor häuslicher Gewalt gewährleistet wird (CoE-ECSR 3.2024, S. 26). Der UN-Ausschuss gegen Folter (CAT) zeigte sich im August 2024 hinsichtlich der Vorwürfe besorgt, dass präventive und schützende einstweilige behördliche Verfügungen nicht für einen ausreichenden Zeitraum gewährt werden, dass Beschwerden über geschlechtsspezifische und häusliche Gewalt häufig abgewiesen werden, insbesondere in ländlichen Gebieten und wenn es um LGBT-Personen geht, und dass die Bereitstellung von Unterkünften diskriminierend ist für ältere Frauen und Frauen mit jugendlichen Söhnen oder Kindern mit Behinderungen (CAT 14.8.2024, S. 9/32). Entsprechend den Bedenken des Ausschusses, so die türkische Frau enrechtsorganisation Mor Çatı, sind die Verurteilungsraten bei Gewalt gegen Frauen niedrig, und es gibt große Probleme bei der Ermittlung von Fällen von Gewalt gegen Frauen und der Strafverfolgung der Täter (Mor Çatı 17.7.2024). Der UN-Menschenrechtsausschuss zeigte sich im November 2024 besorgt über die sehr ho he Zahl von Femiziden und anderen Tötungen im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt und sogenannten Ehrenverbrechen sowie über das Fehlen wirksamer Präventions- und Schutzmaß nahmen, effektiver Ermittlungen und strafrechtlicher Verfolgung der Täter. Der Ausschuss war besorgt ob der Berichte über die Normalisierung von Gewalt gegen Frauen und glaubwürdige Berichte über Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, gegen Frauen in Haftanstalten und über den fehlenden Zugang zu medizinischer Versorgung von Frauen, die verdächtigt werden, mit der Gülen-Bewegung verbunden zu sein. Der Ausschuss war weiters besorgt darüber, dass Frauen, die Opfer jeglicher Art von Gewalt geworden sind, angesichts der Passivität der Behörden und des Risikos der Stigmatisierung und Reviktimisierung (UNHRCOM 28.11.2024, S. 4). Zuletzt brachte das Europäische Parlament „ seine tiefe Besorgnis über die Rückschritte bei den Frauenrechten, die geschlechtsspezifische Gewalt und die Zunahme von Femiziden in der Türkei im Jahr 2024 zum Ausdruck, die den höchsten Stand seit 2010 […] erreichte [und] fordert[e] die türkischen staatlichen Stellen nachdrücklich auf, den Rechtsrahmen und seine Umsetzung zu verbessern, auch durch die uneingeschränkte Anwendung des Schutzgesetzes Nr. 6284, damit wirksam gegen alle Formen von Gewalt gegen Frauen und die Praxis der sogenannten ”Ehrenmorde“ vorgegangen wird und der anhaltenden Politik der Straffreiheit ein Ende gesetzt wird, indem die Täter zur Rechenschaft gezogen werden” (EP 7.5.2025, Pt. 27). 274

Austritt aus der „ Istanbul-Konvention“ - politische Gründe Der Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention trat mit 1.7.2021 in Kraft (ÖB Ankara 4.2025, S.49; vgl. AP 19.7.2022). Das Gesetz zum Schutz der Familie und zur Verhinderung von Gewalt gegen Frauen (Gesetz Nr. 6284) aus dem Jahr 2012 übernahm allerdings viele Aspekte der Istanbul-Konvention in das innerstaatliche Recht und bleibt trotz des Austritts der Türkei aus der Konvention in Kraft. Darüber hinaus ist die Türkei an andere internationale Menschenrechtsvor schriften gebunden, die sie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen verpflichten. Zu nennen sind hier insbesondere das UN-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminie rung der Frau (CEDAW) und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) (HRW 5.2022, S. 2, 5). Die Bewertung der Auswirkungen des Austritts der Türkei aus der Istanbul-Konvention erwies sich als recht schwierig. Einer Quelle des niederländischen Außenministeriums zufolge wirkte sich der Austritt der Türkei aus diesem Vertrag vor allem auf der politischen Ebene aus. Nach dem Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention legten die türkischen Behörden ihren eigenen Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen vor. Der Aktionsplan enthielt weder einen Hinweis auf die „ Gleichstellung der Geschlechter“ noch waren Frauenrechtsorga nisationen bei seiner Ausarbeitung konsultiert worden (MBZ 31.8.2023, S. 59). Seinerzeit wurde die Istanbul-Konvention als erste internationale völkerrechtsverbindliche Ver einbarung vom damaligen Ministerpräsidenten Erdoğan als einem der ersten 2011 unterschrie ben und im Parlament 2012 ratifiziert. Seit Jahren wurde insbesondere von den Islamisten innerhalb und außerhalb der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) die Kritik an der Konvention immer lauter, nämlich dahin gehend, dass diese die Ordnung in der Familie untergrabe, die Scheidungsrate steigere und überhaupt hierdurch die Frau dem Manne den Gehorsam verweigere. Außerdem sahen islamisch-konservative Kreise in der Konventi on auch einen Türöffner für die von ihnen verhasste „ LGBTIQ-Kultur“ und überhaupt für das Vordringen vermeintlicher westlicher Dekadenz (Standard 20.3.2021; vgl.AP 20.3.2021, NZZ 21.3.2021). Kinder-, Früh- und Zwangsehen Kinder-, Früh- und Zwangsehen sind in den letzten Jahren zurückgegangen, kommen aber im mer noch vor. Lokalen Quellen des australischen Außenministeriums zufolge werden in streng religiösen Gemeinschaften, darunter auch in städtischen Gebieten, manchmal Ehen mit Mäd chen im Alter von nur zehn Jahren geschlossen, die erst gemeldet werden, wenn das Mädchen zur Entbindung ins Krankenhaus kommt. Auch in einigen syrischen Flüchtlingsgemeinschaften sollen Kinderheiraten weit verbreitet sein (DFAT 16.5.2025, S. 29). Während ihrer langjährigen Regierungsherrschaft hat die konservative AK-Partei eine starke Agenda der Familienwerte vorangetrieben: Frauen sollten heiraten bzw. sich nicht scheiden lassen und drei Kinder bekommen, so z. B. Präsident Erdoğan (FH 26.2.2025, G4 vgl.NYRB 20.2.2019). Empfängnisverhütung ist nach wie vor legal, aber der Zugang dazu wird immer schwieriger (FH 26.2.2025, G4). 275

Gesetzliche Beschränkungen gibt es für das Recht der Frauen auf Wiederverheiratung, das eine 300-tägige Wartezeit nach der Auflösung einer Ehe vorschreibt (mit der Geburt eines Kindes endet auch die Wartezeit) (USDOS 22.4.2024, S. 65f.). Menschenhandel Laut der Expertengruppe des Europarates gegen Menschenhandel (GRETA) waren im Jahr 2023 von 1.466 Opfern des Menschenhandels 82 % weiblich. Die vorherrschende Form der Ausbeutung [ohne Geschlechtsdifferenzierung bei den Zahlen] ist nach wie vor die sexuelle Ausbeutung (758 Opfer, d. h. 52 %), gefolgt von der Ausbeutung der Arbeitskraft (441 Opfer, d. h. 30 %) und der Zwangsheirat (132 Opfer, d. h. 9 %). Nach Angaben von Vertretern von NGOs gegenüber GRETA sind die Frauenschutzhäuser für Opfer von Menschenhandel unzureichend für die Unterbringung von Opfern des Menschenhandels, da sie deren Bedürfnissen nicht gerecht werden und ihr Personal keine oder nur sehr begrenzte Kenntnisse über Menschenhandel hat. Die staatliche Institution des Nationale Berichterstatters (HREI) hat dem Ministerium für Familie und Soziales empfohlen, eine spezielle Schutzeinrichtung für Opfer von Menschenhandel zu öffnen (CoE - GRETA 22.10.2024, S. 6, 36; vgl. TİHEK/HREI 3.2023, S. 36). Gesetzliche Schutzmaßnahmen und deren praktische Umsetzung/ Verschärfungen des Strafrechts bezüglich Gewalt gegen Frauen Das Gesetz verpflichtet die Polizei und die lokalen Behörden, Überlebenden von Gewalt oder von Gewalt bedrohten Personen verschiedene Schutz- und Unterstützungsleistungen zu gewähren. Es schreibt auch staatliche Dienstleistungen wie Unterkünfte und vorübergehende finanzielle Unterstützung für Überlebende vor und sieht vor, dass Familiengerichte Sanktionen gegen die Täter verhängen können (USDOS 22.4.2024, S.63). Opfer häuslicher Gewalt können bei der Polizei oder beim Staatsanwalt am Gericht eine vorbeugende Verwarnung beantragen, die eine Reihe von Maßnahmen umfassen kann, die darauf abzielen, Täter häuslicher Gewalt zu zwingen, alle Formen der Belästigung und des Missbrauchs einzustellen, einschließlich des Verbots, sich dem Opfer zu nähern und es zu kontaktieren. Die Opfer haben auch das Recht, Schutzanordnungen zu beantragen, um verschiedene Formen des physischen Schutzes zu erwirken, einschließlich des sofortigen Zugangs zu einem Frauenhaus oder einer kurzfristigen Unterkunft, wenn kein Frauenhaus in unmittelbarer Nähe zur Verfügung steht. Des Weiteren besteht die Möglichkeit, auf Verlangen Polizeischutz in Anspruch zu nehmen, und in einigen Fällen können Frauen ihre Identität und ihren Aufenthaltsort anonymisieren lassen. Die Gerichte stellen eine einstweilige Verfügung für eine bestimmte Dauer von bis zu sechs Monaten. Das Opfer kann deren Verlängerung beantragen. Täter können mit kurzen Haftstrafen (zorlama hapsi) belegt oder zum Tragen einer elektronischen Fußfessel verpflichtet werden, wenn sie gegen die Bedingungen der vorbeugenden Abmahnung verstoßen (HRW 5.2022, S. 2). Laut Generaldirektion für die Stellung der Frau des türkischen Ministeriums für Familie, Arbeit und soziale Dienste gibt es verschiedene öffentliche Einrichtungen, die dem Schutze der Frauen dienen. Exemplarisch, nebst den Einrichtungen der Polizei, Gendarmarie, den Hospitälern usw., sind insbesondere folgende zu nennen: Die Zentren für Gewaltprävention und -überwachung (Violence Prevention and Monitoring Centres - VPMCs/ Şiddet Önleme ve İzleme Merkezleri - 276

ŞÖNİM) bieten im Rahmen des Gesetzes Nr. 6284 über den Schutz der Familie und die Verhü tung von Gewalt gegen Frauen psychosoziale, rechtliche, gesundheitliche und wirtschaftliche Unterstützung, Bildungs- und Berufsberatung sowie Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen für Gewaltopfer an. Im Rahmen des Gesetzes Nr. 6284 erbringen die VPMC/ŞÖNİM derzeit Dienstleistungen in 81 Provinzen. So nicht vorhanden, übernehmen andere Einrichtungen, wie beispielsweise die Provinzdirektionen des Ministeriums für Familie, Arbeit und Soziales, die Rolle der ŞÖNİM. In den Großstädten wurden Ermittlungsbüros für häusliche Gewalt (Juli 2023 gab es 225 solcher Büros) eingerichtet, die den Staatsanwaltschaften unterstellt sind. Zu den Aufgaben dieser Büros gehören die Überwachung der Ermittlungen bei Verbrechen gegen Frauen und der Abschluss dieser Ermittlungen, die Durchführung der Aufgaben und Ver fahren nach dem Gesetz Nr. 6284 sowie die Kontrolle und Überwachung der ordnungsgemäßen Umsetzung der Präventions- und Schutzmaßnahmen. Gewaltopfer können sich an das Famili engericht wenden, indem sie einen Antrag auf Inanspruchnahme des Gesetzes einreichen. Mit dem Beschluss des Rates der Richter und Staatsanwälte vom 27.12.2019 wurden aus den Fa miliengerichten spezialisierte Gerichte gemacht, um die Effizienz und Wirksamkeit der Gerichte zu gewährleisten und dringende Entscheidungen zu treffen. Mit Stand Juli 2023 gab es 406 solcher Gerichte. Schlussendlich bieten die 83 Frauenberatungsstellen der Anwaltskammern kostenlose Beratungsdienste für diejenigen an, die nicht genügend Informationen haben, wo und wann sie Rechtsmittel einlegen können. In den Beratungszentren dieser Organisationen er halten Frauen rechtliche und psychologische Beratung und können bei Bedarf in Schutzhäusern untergebracht werden (MFLSS/GDSW 7.2023, S. 99-104). Die Frauenrechtsorganisation Mor Çatı Women’s Shelter Foundation kritisiert allerdings die Wirksamkeit der staatlichen ŞÖNİM. - In den zwölf Jahren seit der Einrichtung von ŞÖNİM gäbe es immer noch Schwierigkeiten bei der Funktionsweise der Unterstützungsmechanismen. Eines der Hauptprobleme bestünde darin, dass die Strafverfolgungsbehörden und die Staatsanwalt schaft als erste Anlaufstelle definiert sind, auch im Falle der Zuweisung von Notunterkünften, und die ŞÖNİM erst an zweiter Stelle stehen. Sie seien nicht als Institutionen definiert, die ganzheitliche und spezialisierte Unterstützung bietet. Frauen würden sich auch nicht an ŞÖNİM wenden, weil sie nicht von deren Existenz wüsten. Andere häufige Probleme, mit denen Frauen konfrontiert seien, wenn sie sich an ŞÖNİM wenden, seien falsche oder unvollständige Informa tionen. Überdies würden ŞÖNİM-Mitarbeiter versuchen die Konflikte zu schlichten, und zudem würden diese eine anklagende und wertende Haltung gegenüber Frauen einnehmen (Mor Çatı 17.7.2024). Die „ Kadın Dayanışma Vakfı - Foundation for Women’s Solidarity“ führt auf ihrer Webseite alle jene staatlichen Stellen an, an die sich von Gewalt bedrohte oder betroffene Frauen wenden können (Siehe hierzu für Details die englischsprachige Webseite: https://www.kadindayanis mavakfi.org.tr/en/what-to-do-when-exposed-to-violence/ ). Hierbei wird beschrieben, was, je nach Institution, zu tun ist. Die angeführten Einrichtungen sind: Polizei-/Gendarmerieposten, Polizei-Hotline 155, Gendarmerie-Hotline 156, Sozialhilfe-Hotline 183, die Staatsanwaltschaft, das Familiengericht, die Zentren für Gewaltprävention und -überwachung (ŞÖNİM), die Provin zialdirektionen für Familie, Arbeit und Sozialdienste, Frauenorganisationen, Frauenhilfsstellen 277

der Stadtverwaltungen, Krankenhäuser, Zentren für soziale Dienste, Gouverneursbüros der Provinzen (KDV/FWS o.D.; vgl. MFLSS/GDSW 7.2023, S. 99-104). Praxis: Frauen zögern aus verschiedenen Gründen, eine Anzeige zu erstatten, darunter ihr Misstrauen gegenüber dem System, ihre Angst, dass der Täter mehr Schaden anrichten könnte, wenn eine Anzeige erstattet wird, ihre Befürchtung, dass sich ein Scheidungsverfahren dadurch in die Länge zieht oder der Täter keine Alimente zahlt, sowie der Einfluss der Familiendynamik. Davon abgesehen sehen sich Frauen auch anderen Hindernissen gegenüber, wenn sie Maß nahmen ergreifen wollen, darunter der Mangel an Informationen über das Beschwerdeverfah ren, das sehr langwierige Gerichtsverfahren, welches auf die Beschwerde folgt, unzureichende Dienste zur Verhinderung von Gewalt während der Ermittlungen/des Gerichtsverfahrens und die Herausforderung, die finanzielle Belastung durch Gerichtsverfahren zu tragen. Hinzukommt, dass sowohl Ermittlungsverfahren als auch Gerichtsverfahren in den meisten Fällen nicht in nerhalb einer angemessenen Frist durchgeführt werden. - Nach Abschluss des Verfahrens vor dem örtlichen Gericht, das ein bis zwei Jahre dauern kann, kann es durchschnittlich zwei bis drei Jahre dauern, bis die Berufungsurteile gefällt werden. Vor dem Kassationsgericht kann es weitere zwei bis drei Jahre dauern (Mor Çatı 17.7.2024). Mit dem vierten Justizreformpaket vom Juli 2021 wurden die Verbrechen der vorsätzlichen Tötung, vorsätzlichen Körperverletzung, Verfolgung und Freiheitsentziehung einer ehemaligen Ehepartnerin/ eines ehemaligen Ehepartners in die Liste der sog. „ qualifizierten Verbrechen“ aufgenommen, was bisher nur während aufrechter Ehe galt. Die Strafen wurden angehoben. Im Mai 2022 trat ein Justiz-Sofortpaket zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen in Kraft. Trotz positiver Änderungen, wie der Anhebung der Mindesthöhe von Freiheitsstrafen für einige Delikte, halten Experten die neuen Regelungen für wenig wirkungsvoll, vor allem aufgrund der nach wie vor vergleichsweise niedrigen Höchststrafen (ÖB Ankara 4.2025, S.49f.). Sie kritisierten auch die Beschränkung auf das formale Kriterium einer (früheren) Ehe unter Nichtbeachtung anderer partnerschaftlicher Verbindungen (ÖB Ankara 30.11.2022, S.13f.). So kritisierte Reem Alsalem, UN-Sonderberichterstatterin über Gewalt gegen Frauen und Mädchen, dass die Änderung der Strafprozessordnung jedoch vorsieht, dass neben einem „ dringenden strafrechtlichen Verdacht“ auch „ konkrete Beweise“ für die Verhängung einer Untersuchungshaft während des Prozesses bei Straftaten, einschließlich sexueller Übergriffe und Missbrauch, verlangt werden. Laut Alsalem zugetragenen Informationen würden Männer, die Gewalt gegen Frauen ausüben, sich weiterhin erfolgreich auf „ Gewohnheit“ als mildernden Umstand berufen, um ihre Strafe gemäß Artikel 29 des Strafgesetzbuches zu verringern, was gegen internationale Menschenrechtsvorschriften verstößt. Anlass zur Sorge gäbe außerdem der eingeschränkte Umfang der Prozesskostenhilfe, der dazu führt, dass Frauen, die den Mindestlohn verdienen, keinen Anspruch auf Prozess kostenhilfe haben, das umständliche Verfahren zum Nachweis der Anspruchsberechtigung und die Sprachbarrieren, mit denen sich rechtsuchende Frauen konfrontiert sehen, insbesonde re Frauen, die ethnischen Minderheiten angehören, einschließlich türkisch-kurdischer Frauen, und Frauen, die Flüchtlinge oder Migranten sind oder unter vorübergehendem Schutz stehen. Auch geschlechtsspezifische Stereotype und der Mangel an Richterinnen sind Alsalem zufolge problematisch (OHCHR 27.7.2022a, S. 6). 278
