2025-09-05-coi-cms-laenderinformationen-tuerkei-version-10-d827
Dieses Dokument ist Teil der Anfrage „Länderinformationsblätter“
werden und gewaltsamen Zwangsrückführungen ausgesetzt sind. Der Ausschuss forderte die Türkei auf, die Praxis der „ Pushbacks“ von Kindern und ihren Familien aus ihrem Hoheitsgebiet unverzüglich zu beenden und sicherzustellen, dass sie individuell identifiziert und vor Abschie bung geschützt werden, denn diese verstößt gegen internationales Recht. Schlussendlich soll die Türkei garantieren, dass Kinder nicht in Schubhaft gehalten werden (UN-CRC 2.6.2023a). Auch der Europäische Ausschuss für soziale Rechte (European Committee of Social Rights) des Europarates zeigte sich ob der schwerwiegenden Vorwürfe und des Schweigens der türkischen Regierung besorgt, wonach Babys, die von syrischen, afghanischen, iranischen und irakischen Flüchtlingen in der Türkei geboren wurden, als staatenlos gelten (CoE-ECSR 3.2024, S. 33). Bei unbegleiteten Minderjährigen wird in der Regel ein Vertreter der Einrichtung, in der das Kind untergebracht ist, vom Friedensgericht der Zivilgerichtsbarkeit (Sulh Hukuk Mahkemesi) zum Vormund bestellt. Das Verfahren ist in der Praxis Berichten zufolge sehr schwierig, da in Ermangelung geeigneter Personen nur selten Vormünder bestellt werden. Ansonsten werden unbegleitete Kinder, die unter internationalem oder vorübergehendem Schutz stehen, entweder in Kinderbetreuungseinrichtungen des Ministeriums für Familie und Soziales oder in Kinder betreuungszentren für unbegleitete ausländische Kinder untergebracht, die in zehn Provinzen (Ağrı, Ankara, Diyarbakır, Erzincan, Erzurum, Istanbul, Konya, Tekirdağ, Van und Yozgat) eröff net wurden. Es gibt jedoch Behauptungen, dass unbegleitete ausländische Kinder manchmal zu Unterbringungszwecken in Abschiebezentren untergebracht werden, obwohl seit 2019 das Ge setz über Ausländer und internationalen Schutz (LFIP) dies nicht mehr vorsieht (CoE - GRETA 22.10.2024, S. 21f.). Kinderarbeit und Schulbesuch Kinderarbeit ist besonders unter Flüchtlingen und Migranten weit verbreitet (EC 30.10.2024, S. 68; vgl. EC 12.10.2022, S. 42, 101), wobei unter den syrischen Kindern ein ernsthafter Anstieg zu verzeichnen ist (DIS 6.10.2023). Armut und ein Mangel an sinnvollen Beschäftigungsmög lichkeiten für Erwachsene trugen zu einem Anstieg der Kinderarbeit unter Flüchtlingskindern bei. Wenn Flüchtlinge nicht in der Lage sind, ihre Grundbedürfnisse zu decken, schicken sie ihre Kin der zur Arbeit (USDOL 26.9.2023). Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die Kinder, die nicht zur Schule gehen, ihre Familien durch Arbeit unterstützen, und zwar fast alle in illegalen Beschäfti gungsverhältnissen (AsiaTimes 3.1.2022). Bei den Buben ist die Wahrscheinlichkeit am größten, dass sie als Kinderarbeiter in informelle Unternehmen geschickt werden, während Mädchen meist versteckte Hausarbeiten verrichten und oft schon in jungen Jahren verheiratet werden, weil ihre eigene Familie nicht die Mittel hat, sie zu versorgen (BPB 18.10.2023). Syrische Flücht lingskinder arbeiten in der Landwirtschaft, beim Betteln auf der Straße, im Dienstleistungssektor sowie in kleinen und mittleren Produktionsbetrieben. Kinder in der verarbeitenden Industrie ar beiten oft bis zu sechs Tage pro Woche und verdienen nur die Hälfte dessen, was ein Arbeitgeber einem Erwachsenen zahlen würde (USDOL 26.9.2023). Laut Schätzungen arbeiten mit 46 % fast die Hälfte aller Flüchtlingskinder oder -jugendlichen unter 18 Jahre. Die Wahrscheinlichkeit, dass syrische Flüchtlingskinder in der Türkei einer bezahlten Beschäftigung nachgehen, ist hoch: 45,1 % der 15- bis 17-Jährigen und 17,4 % der 12- bis 14-jährigen Jungen gehen einer 298

bezahlten Arbeit nach (IZA 6.2021, S. 15f). Obwohl die entsprechenden Raten bei den Mäd chen niedriger sind (4,7 % bei den 12- bis 14-Jährigen und 8,1 % bei den 15- bis 17-Jährigen), sind sie dennoch signifikant (IZA 6.2021, S. 15f). Laut der türkischen NGO İSİG sind seit 2013 mindestens 80 Migrantenkinder bei der Arbeit gestorben (VOA 14.6.2024; vgl. İSİG 11.6.2024). Die Bemühungen, eine große Zahl von Migrantenkindern in das Bildungssystem einzuglie dern, wurden fortgesetzt. Laut Zahlen des zuständigen Ministeriums waren 2023 rund 910.000 Flüchtlingskinder in der formalen Bildung eingeschrieben, die meisten von Ihnen syrische Kinder. Allerdings waren 2023 beinahe 406.000 Flüchtlingskinder im schulpflichtigen Alter immer noch nicht eingeschult und hatten keinen Zugang zu Bildungsmöglichkeiten (EC 30.10.2024, S. 23, 34; vgl. SO 12.8.2024, UNICEF 7.2024). Der türkische Think-Tank „ Education Reform Initiative“ bestätigt, dass nur die Hälfte der registrierten syrischen Kinder zur Schule geht. Von den 14- bis 17-Jährigen sind nur 26 % eingeschult (AsiaTimes 3.1.2022). Von den 1.124.000 syrischen Kindern haben 35 % das Bildungssystem verlassen (DIS 6.10.2023, S. 1). Nach Angaben von UNICEF haben seit 2017 über 800.000 Flüchtlingskinder (kumulativ) monatliche Bargeldunter stützung für Bildung durch das Conditional Cash Transfer for Education Program für Syrer und andere Flüchtlinge erhalten (USDOS 20.3.2023, S. 66). Syrische Flüchtlingsfamilien sehen sich bei der Einschulung ihrer Kinder mit zahlreichen Hin dernissen konfrontiert, darunter die Sprache, die Kosten, die begrenzte Unterstützung durch Gleichaltrige, Mobbing, persönliche Entmutigung aufgrund längerer Schulabstinenz und ge schlechtsspezifische Vorurteile gegenüber Mädchen. Die durch die COVID-19-Pandemie verur sachten Schulschließungen trugen zu weiteren Problemen bei. Seit 2017 hat sich die türkische Regierung allerdings verpflichtet, alle syrischen Flüchtlinge im schulpflichtigen Alter in das na tionale öffentliche Schulsystem zu integrieren, und hat daher alle temporären Bildungszentren geschlossen (UNICEF 16.6.2021; vgl. USDOL 26.9.2023). Frage der Staatsbürgerschaft Kinder syrischer Eltern, die in der Türkei geboren werden, sind nicht automatisch türkische Staatsbürger. Kinder von Eltern mit dem Status von temporären Flüchtlingen haben denselben Status wie ihre Eltern. Viele Syrer haben Schwierigkeiten, das syrische Konsulat in Istanbul zu erreichen, um syrische Dokumente für ihre Kinder zu erhalten, z. B. einen Nachweis der syrischen Staatsangehörigkeit. Aus diesen Gründen besteht für diese Kinder das Risiko der Staatenlosigkeit (DIS 6.10.2023, S. 1). Die Problematik bei in der Türkei geborenen syrischen Flüchtlingskindern ist, dass diese de facto staatenlos sind, da weder der syrische noch der türkische Staat ihnen automatisch die Staats bürgerschaft verleiht (KAS 9.2019, S. 8). Da die Türkei weder Vertragspartei der Konvention zur Verminderung der Staatenlosigkeit von 1961 noch des Europäischen Übereinkommens über die Staatsangehörigkeit von 1997 ist, haben Interessenvertreter Bedenken hinsichtlich des Umstan des geäußert, dass die Türkei diesen Kindern derzeit nicht vorbehaltlos die Staatsbürgerschaft ihres Geburtsortes verleiht. Hinzukommt, dass die syrische Rechtslage keine Übertragung der Staatsbürgerschaft der Mutter auf ihre Kinder garantiert (AIDA 4.2020, S. 137). 299

Gewalt gegen Flüchtlingskinder Gewaltsame Übergriffe auf Flüchtlinge und eine zusehends xenophobe Einstellung betreffen inzwischen auch minderjährige Flüchtlinge. Die Plattform zum Schutz von Kindern und ihren Rechten stellte beispielsweise fest, dass mehr als die Hälfte der befragten türkischen Eltern nicht damit einverstanden ist, dass ihre Kinder mit Syrern befreundet sind (AsiaTimes 3.1.2022). Kinderehen Viele Familien sehen in der Kinderheirat die einzige Möglichkeit, ihren Kindern eine Zukunft zu sichern (CARE 4.2020, S. 4). Neben Gewalt ist der Schutz von Frauen und Mädchen unter 18 Jahren, die in arrangierte Ehen und inoffizielle polygame Ehen verwickelt sind – darunter „ Zweitfrauen“ und Mädchen, die von ihren Familien verkauft wurden –, ein anhaltendes und bedeutendes Problem. Diese Probleme haben auch zu einem Anstieg der Scheidungsrate bei Mädchen unter 18 Jahren beigetragen. Im Jahr 2023 war ein Anstieg der Kinderehen zu beob achten, insbesondere in den von Erdbeben betroffenen Gebieten. - Initiativen wie das Kinder schutzzentrum der Türk Kızılay in Altındağ, Ankara, bieten Frauen Informationen zu Themen wie Frühschwangerschaft, Kinderheirat, sexuelle Belästigung, reproduktive Rechte und Verhütung (ECRE/AIDA 20.8.2024a). Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung Weibliche Flüchtlinge und Asylsuchende sind besonders gefährdet, von kriminellen Organisatio nen ausgebeutet und zu kommerziellem Sex gedrängt zu werden (USDOS 22.4.2024, S.71f.). Kriminelle Netzwerke zwingen und drängen syrische Frauen und Mädchen in den Sexhandel. NGOs berichten von Fällen, in denen Beamte und Freiwillige in Flüchtlingslagern mit kriminellen Netzwerken zusammenarbeiten, um Mädchen mit falschen Jobangeboten für den Sexhandel zu rekrutieren, während syrische Buben weiterhin dem Sexhandel ausgesetzt sind. Syrische Mädchen, die erst zwölf Jahre alt sind, können in inoffiziellen religiösen Zeremonien mit Erwach senen verheiratet werden, vor allem in armen und ländlichen Regionen. Sie sind folglich anfällig, Opfer von Sexhandel zu werden. Berichten zufolge ist die Zahl der syrischen Flüchtlingsfamilien, die ihre minderjährigen Töchter an türkische Männer verheiratet haben, um wirtschaftlich über die Runden zu kommen, im Zuge der COVID-19-Pandemie gestiegen, ebenso wie die Zahl der Kinder, die zur Kinderarbeit herangezogen werden (USDOS 15.6.2023). Quellen ■ Ahval - Ahval (11.7.2022): Over 700,000 Syrians born in Turkey since 2011 - interior minister, https: //ahvalnews.com/syrian-refugees/over-700000-syrians-born-turkey-2011-interior-minister , Zugriff 29.1.2024 [Login erforderlich] ■ AIDA - Asylum Information Database (4.2020): Country Report: Turkey, 2019 Update, https://asyl umineurope.org/wp-content/uploads/2020/04/report-download_aida_tr_2019update.pdf , Zugriff 29.1.2024 ■ AsiaTimes - Asia Times (3.1.2022): Turkey needs a long-term plan for its young Syrians, https: //asiatimes.com/2022/01/turkey-needs-a-long-term-plan-for-its-young-syrians/ , Zugriff 29.1.2024 ■ BPB - Bundeszentrale für politische Bildung [Deutschland] (18.10.2023): The Joys of the Few on the Sweat and Tears of Many: Syrian Textile Workers in Türkiye, https://www.bpb.de/themen/migrat 300

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■ USDOS - United States Department of State [USA] (22.4.2024): Country Report on Human Rights Practices 2023 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2024/02/528267_TU ̈RKIYE-2023-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 23.4.2024 [Login erforderlich] ■ USDOS - United States Department of State [USA] (15.6.2023): 2023 Trafficking in Persons Report: Türkiye, https://www.ecoi.net/de/dokument/2093649.html, Zugriff 29.1.2024 ■ USDOS - United States Department of State [USA] (20.3.2023): Country Report on Human Rights Practices 2022 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2023/03/415610_TU ̈RKIYE-2022-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 29.9.2023 ■ VOA - Voice of America (14.6.2024): Report reveals high number of child worker deaths in Turkey, https://www.voanews.com/a/report-reveals-high-number-of-child-worker-deaths-in-turkey-/765672 0.html, Zugriff 16.9.2024 19.3 Sexuelle Minderheiten (LGBTIQ+) Letzte Änderung 2025-08-06 13:32 Allgemeiner Rechtsrahmen Homosexualität ist seit der Gründung der Türkischen Republik im Jahr 1923 legal. Es gibt keine Gesetze, die sexuelle Handlungen zwischen Personen gleichen Geschlechts verbieten. Das ge setzliche Mindestalter für alle sexuellen Handlungen beträgt 18 Jahre, auch zwischen Personen gleichen Geschlechts. Transgender-Personen können ihr Geschlecht rechtlich ändern, aller dings muss zuvor ein Gericht auf Grundlage eines medizinischen Gutachtens die Genehmigung erteilen. Die rechtliche Geschlechtsangleichung ist an die Bedingung geknüpft, dass die Person unverheiratet bleibt und sich einer Operation und Sterilisation unterzieht. Für Transsexuelle besteht die Möglichkeit eines gesetzlichen Geschlechtswechsels im türkischen Recht seit 1988 (DFAT 16.5.2025, S. 30; vgl. MBZ 31.10.2019, S. 42). Das Diskriminierungsverbot in Art. 10 der Verfassung umfasst jedoch nicht explizit die sexuelle Orientierung. Homosexuelle Handlungen werden im Strafgesetz nicht eigens erfasst (AA 20.5.2024, S. 15; vgl. USDOS 22.4.2024, S.75). In diesem Kontext stellte der Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen fest, dass auch das Gesetz über die Menschenrechts- und Gleichstellungsinstitution der Türkei [HREI bzw. Tİ HEK] zwar einen umfassenden Rechtsrahmen für das Verbot von Diskriminierung bietet, jedoch nicht auf Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung oder der Geschlechtsidentität eingeht (UNHRCOM 28.11.2024, S. 3). Die Gesetzgebung verbietet somit nicht ausdrücklich die Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung oder Gender-Identität in sozialen Einrichtungen, Regierungsstellen oder Unternehmen. Umgekehrt garantiert das Gesetz Mitgliedern sexueller Minderheiten nicht jene Rechte in Bezug auf Pension, Erbschaft oder Sozialversicherung, die Heterosexuellen infolge einer Eheschließung implizit gewährleistet werden (DFAT 16.5.2025, S. 30). Zwar ist Geschlechtsverkehr zwischen zwei Personen desselben Geschlechts nicht strafbar, aber verschiedene Quellen weisen darauf hin, dass einige Gesetze dazu benutzt werden, die Freiheiten von Mitgliedern sexueller Minderheiten zu beschneiden. Neben dem gewähnten Be amtengesetz, welches Entlassungen wegen „ unmoralischen Verhaltens“ ermöglicht, können LGBTIQ-plus-Aktivisten und -Demonstranten auch aufgrund ihrer öffentlich geäußerten Ansich ten gemäß Artikel 216 des Strafgesetzbuchs wegen „Aufstachelung zu Hass und Feindschaft“ 302

angeklagt werden. Dies geschah beispielsweise mit Studenten, die während einer Demons tration an der Bosporus-Universität Regenbogenfahnen schwenkten (MBZ 31.8.2023, S. 67; vgl. BAMF 4.11.2024a, S. 2). Gesetzesbestimmungen zu „ Straftaten gegen die öffentliche Moral“, „ Schutz der Familie“ und „ unnatürliches Sexualverhalten“ dienen manchmal als Grundlage für polizeilichen Missbrauch und Diskriminierung durch Arbeitgeber sowie zwecks Verbot von Ver sammlungen (USDOS 22.4.2024, S.74; vgl. DFAT 16.5.2025, S. 30, ÖB Ankara 4.2025, S.52). Veranstaltungen von LGBTIQ-plus-Organisationen werden regelmäßig auch mit Verweis auf den Schutz der öffentlichen Sicherheit und Gefährdung der Versammlungsteilnehmenden ver boten. Hingegen nicht verboten werden Demonstrationen gegen sexuelle Minderheiten, welche regelmäßig in verschiedenen türkischen Städten stattfinden (AA 20.5.2024, S. 15). LGBTQ-Aktivisten zeigten sich durch einen im Februar 2025 publik gewordenen Gesetzesent wurf alarmiert, basierend auf dem 4. Strategiepapier zur Justizreform für die Periode 2025-2029, das vom Justizministerium ausgearbeitet und von Staatspräsident Erdoğan am 23.1.2025 ange kündigt wurde. - So tatsächlich als Gesetz angenommen, würde das „ biologisches Geschlecht“ in der Türkei gesetzlich verankert und die „ Förderung“ von LGBTQ-Rechten unter Strafe ge stellt. Laut dem vom Justizministerium erstellten Entwurf würde die neue Gesetzgebung auch Gefängnisstrafen für diejenigen einführen, die gleichgeschlechtliche Eheschließungen durch führen. Eine Bestimmung, die dem türkischen Strafgesetzbuch hinzugefügt werden soll, würde vorschreiben, dass eine „ Person, die öffentlich Einstellungen und Verhaltensweisen fördert, lobt oder unterstützt, die dem biologischen Geschlecht bei der Geburt und der öffentlichen Mo ral zuwiderlaufen, zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu drei Jahren verurteilt wird“. „ Wenn Personen gleichen Geschlechts eine Verlobungs- oder Trauungszeremonie durchfüh ren, werden sie zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten bis zu vier Jahren verurteilt“. Weitere Aspekte des Gesetzentwurfs sehen vor, das Alter, ab dem eine Geschlechts umwandlung vorgenommen werden kann, von 18 auf 21 Jahre zu erhöhen und die Änderung des Geschlechts in offiziellen Dokumenten zu erschweren. Gemäß dem neuen Artikel, der dem Abschnitt „ Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit“ des Strafgesetzbuchs hinzugefügt werden soll, werden Personen, die geschlechtsangleichende Operationen ohne Genehmigung durchführen, zu einer Freiheitsstrafe von drei bis sieben Jahren und einer Geldstrafe von ein tausend bis zehntausend Tagessätzen verurteilt; Personen, die sich einer solchen Operation unterziehen, werden zu einer Freiheitsstrafe von einem bis drei Jahren verurteilt (KAOS-GL 27.2.2025; vgl. MEE 27.2.2025, Presse 4.3.2025). Rechtsverletzungen und Diskriminierungen Angehörige sexueller Minderheiten sehen sich de facto mit Hindernissen für die politische Teil habe konfrontiert und sind in der Politik und in Führungspositionen der Regierung weiterhin unterrepräsentiert. Eine Handvoll Personen, die sexuellen Minderheiten angehören, haben für ein Amt kandidiert, aber diese Personengruppen bleiben politisch marginalisiert, zum Teil, weil die Regierung Gesetze zur öffentlichen Moral anwendet, um das Eintreten für Rechte sexuel ler Minderheiten einzuschränken. Bei den Wahlen 2023 gab es erfolgreiche Kampagnen von mehreren rechtsextremen Politikern, die mit explizit homophoben Plattformen antraten (FH 26.2.2025, B4). 303

Die Erdoğan-Regierung und die religiös-konservativen Oppositionsparteien verwenden regel mäßig diskriminierende politische Äußerungen, die auf Hassreden gegen Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender-Personen hinauslaufen, unter dem Vorwand, familiäre Werte zu un terstützen, und versuchen so, konservative Wählerschichten anzusprechen und die gesellschaft liche Polarisierung zu schüren. Dies bringt die Betroffenen in große Gefahr (HRW 16.1.2025; vgl. DFAT 16.5.2025, S. 31). Diskriminierung, Einschüchterung und Gewalt gegen sexuelle Minderheiten und insbesondere Transgender-Personen haben zugenommen, was zum Teil auf das Fehlen wirksamer straf rechtlicher Sanktionen zurückzuführen ist. Häftlinge, welche sexuellen Minderheiten angehören, werden diskriminiert und in Einzelhaft gehalten (EC 8.11.2023, S. 42). Ähnlich wie zuvor im Sep tember 2023 (EP 13.9.2023, Pt. 15) „ verurteilt [das Europäische Parlament (EP)] aufs Schärfste, dass die Grundrechte von LGBTI+-Personen in der Türkei nach wie vor verletzt und nicht aus reichend geschützt werden, wobei Hetze und Hasskriminalität zunehmen, sich vermehrt einer diskriminierenden Rhetorik bedient wird und die Medien weiterhin Stereotypen über sexuelle Ori entierung und Geschlechtsidentität verbreiten; bedauert, dass diese anhaltende Diskriminierung häufig von den Behörden gebilligt wird, wie die Massenverhaftungen während der Pride-Parade im Jahr 2023 und das Verbot der Parade im Jahr 2024 belegen, während Anti-LGBTI+-Märsche genehmigt wurden; fordert die staatlichen Stellen der Türkei nachdrücklich auf, umgehend damit aufzuhören, Veranstaltungen gegen Homophobie, darunter auch Pride-Paraden, zu verbieten“ (EP 7.5.2025, Pt. 26; vgl. EC 30.10.2024, S. 34). In diesem Zusammenhang zeigte sich auch der Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen besorgt über die systematische Dis kriminierung und Gewalt gegen LGBTQ-Personen und -Vereinigungen sowie hinsichtlich der Einschränkungen ihrer Rechte auf Vereinigungsfreiheit als auch der freien Meinungsäußerung (UNHRCOM 28.11.2024, S. 3). Der Zugang zu Rechtsschutz und Rechtsmitteln scheint für Angehörige sexueller Minder heiten eingeschränkt zu sein. In diesem Zusammenhang weisen Quellen darauf hin, dass es in der Gesetzgebung und den Verordnungen keine spezifischen Hinweise auf den Schutz der Rechte von LGBTIQ-plus-Personen gibt (MBZ 2.2025a, S. 88). Laut einem Bericht der NGO KAOS GL vom Herbst 2023 beklagen Angehörige sexueller Minderheiten, dass der Zugang zum Justizsystem für sie eingeschränkt und die Ineffektivität des Systems viel stärker spürbar sei. Wenn Richter, Staatsanwälte und Polizeibeamte darin geschult werden, LGBTIQ-plus-Personen auszuschließen, und ihre Denkweise von der heteronormativen Infrastruktur beeinflusst wird, in Kombination mit dem Klima homophober und transphober Hassreden, die von Politikern und Entscheidungsträgern verbreitet werden, wird die Nutzung der Justiz selbst zu einem Prozess, der zu Verstößen führt, so KAOS GL. Dies führe dazu, dass Polizeistationen, Gerichtsgebäude und andere Behörden, die Verwaltungsbeschwerden annehmen, für LGBTIQ-plus-Personen nicht willkommen seien. Zwar sei es besser, sich an andere Organisationen wie die Gleichstel lungsbehörde (TİHEK) oder die Ombudsperson zu wenden, doch auch diese würden mitunter diskriminieren und die Menschenrechte verletzen (KAOS-GL 10.2023, S. 4). Beispiele: Versammlungsfreiheit 304

Kundgebungen von Gruppen sexueller Minderheiten werden systematisch verboten bzw. ge waltsam unterbunden, so auch die landesweit größte Pride-Parade in Istanbul im Juni 2023 zum neunten Mal in Folge. Als Grund für die Untersagung werden in der Regel Sicherheitsgründe angegeben. Trotz gegenteiliger Gerichtsentscheidung halten Gouverneure am Verbot fest (ÖB Ankara 4.2025, S.52). Auch Ende Juni 2024 verbot der Istanbuler Gouverneur die Pride-Parade und ließ das Stadtzentrum abriegeln, und zwar ohne Begründung. Es hieß lediglich, dass „ Ille gale Gruppen“ zu einem nicht genehmigten Protestmarsch aufgerufen hätten (FAZ 30.6.2024; vgl. Zeit Online 1.7.2024, DlF 1.7.2024). Trotz des Verbots versammelten sich Hunderte Men schen bei einer Pride-Parade. Der Marsch ging ohne Zusammenstöße oder Polizeigewalt von statten. Allerdings gab es einige Festnahmen (Zeit Online 1.7.2024; vgl. DlF 1.7.2024). Beispiele aus den Jahren vor 2023 sind älteren Versionen der Länderinformationen zu entneh men. Zahlreiche LGBTI-Organisationen berichten von einem anhaltenden Gefühl der Verwundbarkeit, da ihre Rede-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit weiterhin eingeschränkt sind (USDOS 22.4.2024, S.77; vgl. EP 7.6.2022, S. 15, Pt. 21, EC 19.10.2021, S. 40). Menschenrechtsakti visten führen die ihrer Einschätzung nach zunehmende negative öffentliche Stimmung und die Gewalt gegen Mitglieder sexueller Minderheiten auf eine Zunahme der gegen Letztere gerich teten Rhetorik von Regierungsvertretern zurück, die durch regierungsnahe Medien verstärkt wird. Präsident Erdoğan verglich die Achtung der Rechte von LGBTQ-plus-Personen häufig mit Terrorismus und sprach von der „Abartigkeit namens LGBT“. Organisationen sexueller Minder heiten berichten, dass die Regierung in ihrer Rhetorik LGBTQ-plus-Themen zunehmend mit Terrorismus gleichsetzt (USDOS 22.4.2024, S.75, 77). Arbeitsplatz Umfragen unter Betroffenen deuten darauf hin, dass die Diskriminierung aufgrund der Ge schlechtsidentität, der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsmerkmale ein großes Hinder nis für LGBTQ-plus-Personen beim Zugang zu Beschäftigung darstellt. Sie sind oft gezwungen, ihre Identität zu verbergen, um das Risiko der Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Da das Risiko, diskriminiert zu werden, auch nach dem Einstellungsprozess weiter besteht, bestimmt diese Strategie ihr gesamtes Arbeitsleben. Die Geheimhaltung scheint im öffentlichen Sektor unver meidlich zu sein, im Gegensatz zum privaten Sektor. Während 2021 über 17 % im Privatsektor angaben, vollständig ihre sexuelle Orientierung offengelegt zu haben, betrug der Anteil im öf fentlichen Sektor lediglich 5 % (KAOS-GL 8.11.2021, S. 5f.). Denn das türkische Arbeitsrecht erlaubt die Entlassung von Regierungsangestellten, die „ sich in einer für den öffentlichen Dienst unwürdigen, schändlichen und beschämenden Weise verhalten“, während andere Gesetze die nicht näher definierte Praxis der „ Unsittlichkeit“ unter Strafe stellen. Menschenrechtsbeobachter berichten, dass Arbeitgeber diese Bestimmungen nutzen, um Mitglieder sexueller Minderheiten zu diskriminieren (DFAT 16.5.2025, S. 31). Die Untersuchung von Kaos-GL zur Situation von Angehörigen sexueller Minderheiten, die im öffentlichen und privaten Sektor arbeiten ergab, dass Arbeitslosigkeit unter ihnen weit verbrei tet ist und die Angst vor Diskriminierung und Entlassung zunimmt (ILGA 20.2.2023). Mitunter 305

entscheiden Gerichte im Sinne Betroffener. - Beispielsweise wurde Larin Kayataş, eine Trans gender-Ärztin, die 2021 aus dem Dienst entlassen wurde, weil sie angeblich „ die allgemeine Moral untergräbt“, wieder eingestellt, nachdem ein Berufungsgericht entschied, dass ihre Ent lassung rechtswidrig war. Kayataş wurde außerdem finanziell entschädigt (Bianet 21.7.2023). Meinungs- und Informationsfreiheit Das Gesetz verbietet zwar keine bestimmten Bücher oder Publikationen, aber Gerichtsent scheidungen führen zu Distributions- oder Verkaufsverboten für bestimmte Bücher und Zeit schriften. Der Presserat, der für die Verhängung von Werbeverboten zuständig ist, änderte im Juli 2022 die Richtlinien zur Presseethik. Die Änderungen umfassten neue Bestimmungen, die sich vermeintlich auf sexuelle Minderheiten beziehen und Veröffentlichungen verbieten, die „ die Familienstruktur, die die Grundlage der Gesellschaft ist, stören“ und „ die gemeinsamen natio nalen und moralischen Werte der türkischen Gesellschaft schwächen“. Das Gremium dehnte die Verpflichtungen der Presseethik auf Websites und Social-Media-Konten von Zeitungen aus (USDOS 22.4.2024, S. 31; vgl. USDOS 20.3.2023, S. 39). Im November 2020 beschloss das Handelsministerium, dass alle Produkte mit LGBTI- und Regenbogen-Bezug auf Webseiten des Onlinehandels mit einer 18+ Warnung versehen werden müssen (ÖB Ankara 4.2025, S.52). Der Oberste Rundfunk- und Fernsehrat (RTÜK) verhängte (2022) eine Geldstrafe gegen Netflix wegen der Zeichentrickserie Jurassic World Camp Cretaceous wegen ihrer LGBT+-Figuren (ILGA 20.2.2023). Die Szenen, in denen sich „ zwei Mädchen küssten“, verstießen gegen den „ Grundsatz des Schutzes der allgemeinen Moral und der Familie“, so das RTÜK-Urteil. Die Be schreibung der Serie durch Netflix als „ Serie, die mit der Familie angesehen werden kann“, sei irreführend und könne Kinder unangemessenen Inhalten aussetzen, hieß es weiter. - Das Minis terium für Familie und Soziales hatte zuvor eine Beschwerde eingebracht (Bianet 18.8.2022). Das Verfassungsgericht entschied am 22.11.2023, dass das Zugangsverbot zu Hornet, einer Da ting-App für Schwule mit über drei Millionen Nutzer und Nutzerinnen, gegen die Meinungsfreiheit verstößt. Der Verfassungsgerichtshof entschied außerdem, dass die Gerichte, die Einsprüche gegen die Entscheidung zurückgewiesen haben, das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf verletzt haben. Zu den Entscheidungen des Verfassungsgerichts gehört auch die Zugangssper re für Hornet, die vom 8. Strafgerichtshof in Ankara am 6.8.2020 verhängt wurde (KAOS-GL 7.2.2024). Einstellungen und Handlungen gesellschaftlicher Gruppen und staatlicher Akteure Nachdem es im Herbst 2022 zu zahlreichen Anti-LGBTIQ-Demonstrationen kam (BAMF 7.11.2022, S. 11; vgl. Zeit Online 19.9.2022, AP 18.9.2022), folgte auch im September 2023 in Istanbul der von islamistischen Gruppen organisierte „ Great Family March“ gegen sexuelle Min derheiten, welcher unter dem Motto stand: „ LGBT-Propaganda sollte für unsere Kinder, unsere Familie und die Menschheit verboten werden“. Die Regulierungsbehörde RTÜK (Obersten Ra tes für Rundfunk und Fernsehen) genehmigte den Werbespot des Marsches mit dem Titel „ Sag Nein zu LGBT-Propaganda“, der dann im nationalen Fernsehen als „ öffentliche Bekanntma chung“ ausgestrahlt wurde (ILGA 2.2024; vgl. BIRN 13.9.2023, Duvar 18.9.2023). In Izmir nahm 306

die Polizei zehn Demonstranten vor dem RTÜK-Büro fest, die gegen die Entscheidung der türki schen Fernseh- und Rundfunkbehörde protestierten, im Fernsehen einen öffentlichen Aufruf zu senden, in dem die Bürger aufgefordert wurden, am Sonntag an einer Anti-LGBT-Kundgebung in Istanbul teilzunehmen (BIRN 13.9.2023; vgl. Duvar 13.9.2023, BAMF 18.9.2023). Umgekehrt schritt die Polizei nicht ein, als im Juni 2023 von der Anwaltskammer Izmir veranstaltetes Früh stück im Rahmen der Pride-Woche von einer aus LGBTIQ-feindlichen Aktivisten bestehenden Gegendemonstration angegriffen wurde. Diese Gegendemonstration bestand u. a. aus Anhän gern der nationalistischen Vatan Partisi (VP), der Jugendorganisation Türkiye Gençlik Birliği (TGB), der Grauen Wölfe und der AKP-Jugend (BAMF 4.11.2024a, S. 8). Der Rückzug der Türkei aus der Istanbuler Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt wurde u. a. mit dem Vorwurf verbunden, die Kon vention sei zum Schutze der Rechte sexueller Minderheiten missbraucht worden. Die Kommu nikationsdirektion der Präsidentschaftskanzlei erklärte, dass die Konvention von einer Gruppe von Menschen gekapert wurde, die versuchen, Homosexualität zu normalisieren - was mit den sozialen und familiären Werten der Türkei unvereinbar sei. Daher die Entscheidung, sich zu rückzuziehen (PRT-DC 22.3.2021). In Großstädten (Istanbul, Izmir, Ankara) und an der Südküste ist es in bestimmten Teilberei chen möglich, Homosexualität zu zeigen. Darüber hinaus, etwa in ländlichen Gebieten, ist sie gesellschaftlich nicht akzeptiert. Bei Bekanntwerden ihrer sexuellen Orientierung werden Ho mosexuelle, vor allem aber Transsexuelle, häufig von ihrem sozialen und beruflichen Umfeld ausgegrenzt oder belästigt und nicht selten Opfer von Gewalt und Diskriminierung (AA 20.5.2024, S. 15; vgl. BAMF 4.11.2024a, S. 10). Die Akzeptanz von gleichgeschlechtlichen Beziehungen bleibt in der türkischen Gesellschaft gering. In einer im Juli und August 2022 durchgeführten Um frage gaben 36,6 % der Befragten an, dass Homosexualität eine Perversion sei, die vom Staat verboten werden sollte. 33,5 % bezeichneten Homosexualität als eine Krankheit, die behandelt werden soll. 72,3 % der Befragten sehen Homosexuelle als schädlich für die Gesellschaft an. 17,6 % gaben an, dass Homosexualität respektiert werden soll. Während zwei Drittel aller Be fragten Homosexualität nicht für einen natürlichen Zustand hielten, lag dieser Wert bei jungen Menschen zwischen 18 und 24 Jahren bei 56,7 % (ÖB Ankara 4.2025, S.52). Opfer homophober Gewalt wenden sich in der Regel nicht an die Polizei, und wenn sie es doch tun, werden sie in vielen Fällen von der Polizei nicht angemessen behandelt oder geschützt. Betroffene erklärten auch, dass nicht jeder Staatsanwalt bereit sei, homophobe Gewalttäter zu verfolgen. Angehöri ge sexueller Minderheiten hätten überdies kein Vertrauen in ein ordnungsgemäßes Verfahren (MBZ 2.3.2022, S. 60). In Einzelfällen kommt es auch zu „ Ehrenmorden“ im Zusammenhang mit Homosexualität (AA 20.5.2024, S. 15). NGOs beziffern sie im niedrigen dreistelligen Bereich jährlich (AA 28.7.2022, S. 14). Die Türkei ist zudem einer der Staaten mit der höchsten Rate an Morden an Trans genderpersonen. So wurden zwischen 2008 und 2024 68 Transgenderpersonen ermordet (ÖB Ankara 4.2025, S.52). Auch 2024 kam es zu Übergriffen auf Mitglieder sexueller Minderhei ten, insbesondere Transgenderfrauen, gegen die es auch Attacken mit Todesfolge gab. - In Alsancak wurde eine Transfrau auf der Straße von einer Gruppe von Männern angegriffen, ohne 307
