2025-09-05-coi-cms-laenderinformationen-tuerkei-version-10-d827
Dieses Dokument ist Teil der Anfrage „Länderinformationsblätter“
■ EP - Europäisches Parlament (14.4.2016): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 14. April 2016 zu dem Bericht 2015 über die Türkei (2015/2898(RSP)), https://www.europarl.europa.eu /doceo/document/TA-8-2016-0133_DE.pdf , Zugriff 14.11.2023 ■ FES - Friedrich-Ebert-Stiftung (16.6.2025): Auf dem Weg in eine „ terrorfreie Türkei“, https://turkey.f es.de/de/e/auf-dem-weg-in-eine-terrorfreie-tuerkei.html , Zugriff 1.7.2025 ■ HDN - Hürriyet Daily News (18.10.2023): Parliament extends mandate for troops in Iraq, Syria, https://www.hurriyetdailynews.com/parliament-extends-mandate-for-troops-in-iraq-syria-187140 , Zugriff 15.1.2024 ■ ICG - International Crisis Group (5.6.2025): Türkiyes PKK Conflict: A Visual Explainer International Crisis Group, https://www.crisisgroup.org/content/turkiyes-pkk-conflict-visual-explainer , Zugriff 2.7.2025 [kostenpflichtig] ■ ICG - International Crisis Group (6.2025): CrisisWatch Conflict Tracker - Türkiye - June 2025, https: //www.crisisgroup.org/crisiswatch?utm_campaign=cw_menu_link, Zugriff 8.7.2025 ■ ICG - International Crisis Group (16.5.2025): The PKKs Decision to Disband May Offer a Historic Chance at Peace International Crisis Group, https://www.crisisgroup.org/europe-central-asia/west ern-europemediterranean/turkiye/pkks-decision-disband-may-offer-historic-chance-peace , Zugriff 2.7.2025 [Login erforderlich] ■ ICG - International Crisis Group (8.1.2024): Türkiye’s PKK Conflict: A Visual Explainer, https://www. crisisgroup.org/content/turkiyes-pkk-conflict-visual-explainer , Zugriff 3.10.2024 [Login erforderlich] ■ İHD/HRA - İnsan Hakları Derneği/Human Rights Association (23.8.2024): 2023 Yılı Hak İhlalleri Raporu İnsan Hakları Derneği [2023 Bericht über Rechtsverletzungen Menschenrechtsvereinigung], https://www.ihd.org.tr/wp-content/uploads/2024/08/2023-Yılı-Hak-İhlalleri-Bilançosu.pdf , Zugriff 20.9.2024 ■ İHD/HRA - İnsan Hakları Derneği/Human Rights Association (27.9.2023a): Human Rights Association 2022 Report on Human Rights Violations in Turkey, https://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2023/ 09/2022-Summary-Table_Human-Rights-Violations.pdf , Zugriff 12.1.2024 ■ Majalla - Al Majalla (11.5.2025): What next after historic PKK decision to disband?, https://en.majal la.com/node/325549/politics/what-next-after-historic-pkk-decision-disband , Zugriff 1.7.2025 ■ ORF - Österreichischer Rundfunk (13.3.2025): Türkei setzt Angriffe auf PKK-Stellungen fort, https: //orf.at/stories/3387559, Zugriff 14.3.2025 ■ SZ - Süddeutsche Zeitung (29.6.2016): Chronologie des Terrors in der Türkei, https://www.suedde utsche.de/politik/tuerkei-der-terror-begann-in-suruc-1.3316595 , Zugriff 14.11.2023 ■ TM - Turkish Minute (15.5.2025): Turkey eyes legal steps after Kurdish militant group PKK lays down arms - Turkish Minute, https://www.turkishminute.com/2025/05/15/turkey-eyes-legal-steps-after-kur dish-militant-group-pkk-lays-down-arms , Zugriff 1.7.2025 ■ TM - Turkish Minute (4.11.2022): Top court finds no rights violations of victims of 2015 curfew in Kurdish-majority city - Turkish Minute, https://www.turkishminute.com/2022/11/04/rights-violation s-of-victims-of-2015-curfew-in-kurdish-majority-city , Zugriff 14.11.2023 ■ USDOS - United States Department of State [USA] (12.12.2024): Country Report on Terrorism 2023 - Chapter 1 - Türkiye, https://www.ecoi.net/de/dokument/2119014.html, Zugriff 9.1.2025 ■ USDOS - United States Department of State [USA] (22.4.2024): Country Report on Human Rights Practices 2023 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2024/02/528267_TU ̈RKIYE-2023-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 23.4.2024 [Login erforderlich] 3.1 Gülen- oder Hizmet-Bewegung Letzte Änderung 2025-08-06 13:34 Divergierende Einschätzungen der Gülen-Bewegung Die Gülen-Bewegung ist eine religiöse Bewegung, die in den 1960er Jahren in der Türkei auf der Grundlage der Predigten des muslimischen Geistlichen Fethullah Gülen entstand, einem ehema ligen radikalen islamistischen Prediger, der im Oktober 2024 im Exil in den Vereinigten Staaten verstarb. Die Bewegung, auch bekannt als Cemaat („ Gemeinschaft“) oder Hizmet („ Dienst“), entwickelte sich zu einer zivilgesellschaftlichen Bewegung, an der religiöse, bildungsbezoge ne und soziale Organisationen beteiligt sind. Ihre Gegner, darunter auch ehemalige Anhänger, 26

äußern Bedenken hinsichtlich des sektenähnlichen, geheimnisvollen und undemokratischen Charakters der Bewegung (DFAT 16.5.2025, S. 20). Fethullah Gülen war das charismatische Zentrum des weltweit aktiven Netzwerks (Dohrn/BPB 27.2.2017), mit Unterstützern in 140 Län dern (DFAT 16.5.2025, S. 20). Während Gülen von seinen Anhängern als spiritueller Führer betrachtet wurde, der einen toleranten Islam förderte, der Altruismus, Bescheidenheit, harte Arbeit und Bildung hervorhob (BBC 21.7.2016) und als leidenschaftlicher Befürworter des in terreligiösen und interkulturellen Austauschs dargestellt wurde, beschrieben Kritiker Gülen als islamistischen Ideologen, der über ein strikt organisiertes Wirtschafts- und Medienimperium regierte und dessen Bewegung den Sturz der säkularen Ordnung der Türkei anstrebte (Dohrn/ BPB 27.2.2017). Stärke und Präsenz der Gülen-Bewegung Die Gülen-Bewegung ist keine fest umrissene Organisation. Man kann bzw. konnte nicht offiziell Mitglied werden. Vor ihrem Verbot bildete die Bewegung eine lose Ansammlung von religiösen, erzieherischen und sozialen Einrichtungen. Die diffuse Organisationsform der Bewegung macht es schwierig, ihre genaue Größe zu bestimmen. Um 2010 schätzte man, dass zwischen acht und zehn Millionen Menschen in der Türkei auf die eine oder andere Weise in die Gülen-Bewegung involviert waren (MBZ 2.2025a, S. 45). Auch weil die Gülenisten in der Türkei zu einer verdeckten Existenz bestimmt waren, war es unmöglich, die aktuelle Größe dieser Bewegung im Land zu ermitteln (MBZ 31.8.2023, S. 41). Die Expertenschätzungen hinsichtlich der Mitgliederanzahl variieren stark. - So z. B. nennt das Carnegie Endowment for International 2013 eine Zahl von drei Millionen Sympathisanten (CEIP 24.10.2013), während die Expertin Caroline Tee die Zahl der treuen Anhänger vor 2016 auf eine halbe bis zwei Millionen schätzt (MBZ 2.2025a, S. 45). Obwohl die Bewegung nicht offen in der Parlamentspolitik engagiert war, war sie äußerst ein flussreich. Neben Schulen, Studienzentren und religiösen Diskussionszentren betrieb sie Un ternehmen und Medien, darunter eine Nachrichtenagentur, einen Verlag und mehrere Fernseh sender. Seit Anfang der 1970er Jahre nutzten die Gülenisten ihre Netzwerke, um Anhänger in wichtige Regierungspositionen zu bringen, darunter in die Polizei, die Justiz und die Geheim dienste (DFAT 16.5.2025, S. 20). Die Präsenz von Gülenisten im öffentlichen Dienst umfasste, je nach Bereich, zwischen 1,5 % und 11,3 % aller Beamten. Auffallend war die Präsenz von Gülenisten im Bildungswesen, wo sie etwa 18 % aller privaten Wohnheime und 11 % aller Pri vatschulen beeinflussten. Unter den höheren Bürokraten scheint (vor dem Putschversuch) der Anteil der Gülenisten in der Justiz 30 % und bei der Polizei 50 % erreicht zu haben (MIT-CIS 18.3.2019). Historische Kooperation zwischen Gülen-Bewegung und AKP-Regierung Jahrzehntelang waren Gülen und Präsident Erdogan politisch auf einer Linie, und die Mitglied schaft in der Gülen-Bewegung war kein Verbrechen. Die Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung wurde aufgrund der engen Beziehung zwischen Erdoğan und Gülen indirekt von der AKP ge fördert (DFAT 16.5.2025, S. 20). Beide hatten bis vor einigen Jahren ähnliche Ziele: die politi sche Macht des Militärs zurückzudrängen und den frommen Anatoliern zum gesellschaftlichen Aufstieg zu verhelfen (HZ 20.7.2016). Die beiden Führer verband die Gegnerschaft zu den 27

säkularen, kemalistischen Kräften in der Türkei. Sie hatten beide das Ziel, die Türkei in ein vom türkischen Nationalismus und einer starken, konservativen Religiosität geprägtes Land zu verwandeln. Selbst nicht in die Politik eintretend, unterstützte Gülen die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) bei deren Gründung und späteren Machtübernahme, auch indem er seine Anhänger in diesem Sinne mobilisierte (MEE 25.7.2016). Gülen-Anhänger hatten viele Positionen im türkischen Staatsapparat inne, die sie zu ihrem eigenen Vorteil nutzten, und wel che die regierende AKP tolerierte (DW 13.7.2018). Erdoğan nutzte wiederum die bürokratische Expertise der Gülenisten, um das Land zu führen und dann, um das Militär aus der Politik zu drängen. Nachdem das Militär entmachtet war, begann der Machtkampf (BBC 21.7.2016). Die Allianz zwischen AKP und Gülen-Bewegung erreichte ihren Höhepunkt während des Verfas sungsreferendums vom 12.9.2010, das die Zusammensetzung der Justizorgane veränderte und letztlich die säkularistische Kontrolle über die Justiz brach. Die beiden, AKP und Gülenisten, kooperierten insbesondere bei den Ergenekon- und Sledgehammer-Prozessen, die Hunderte von aktiven und pensionierten Militärs ins Gefängnis brachten, was die Befehlsgewalt des Mi litärs neu bestimmte (Taş 16.5.2017, S. 4). Manipulierte Beweisstücke, geheime Zeugen und etliches mehr während der Ermittlungen bildeten nicht selten die Basis jener Schauprozesse, die von der türkischen Polizei und der Staatsanwaltschaft seit 2007 vorbereitet wurden (Qantara 30.9.2013). Insbesondere das Gesetz über anonyme Zeugen aus 2008 wurde vor allem von der Gülen-Bewegung genutzt. Die Polizei, die Staatsanwaltschaft und die Sondergerichte konnten jeden Fall, den sie wollten, in Zusammenarbeit einleiten und die gewünschte Entscheidung herbeiführen. Die AKP hat diese Situation in jeder Hinsicht unterstützt (Mezopotamya 2.8.2022). Die Ermittlungen wurden von einer kleinen Gruppe von Gülen-Anhängern bei der Polizei und in den unteren Rängen der Justiz durchgeführt, medial unterstützt von den Gülen-nahen Medien (Jenkins/CACI-SRSP 15.4.2014; vgl. Cagaptay o.D., S. 31), welche gleichzeitig Regierungschef Erdoğan als einen Demokraten darstellten, der gegen die Eliten und einen ruchlosen „ tiefen Staat“ kämpft (Cagaptay o.D., S. 31f). Der Gülen-Bewegung war es somit gelungen, einen Staat im Staate zu etablieren, indem sie die Sicherheitskräfte ebenso unterwanderte wie den Justizapparat und die Verwaltung. Der Einfluss der Bewegung innerhalb der Justiz, gedeckt von der regierenden AKP, stellte sicher, dass die Verfehlungen ihrer Anhänger, z. B. Manipulati on von Beweisstücken in Verfahren zwecks Verfolgung politischer Gegner, ungesühnt blieben (Qantara 30.9.2013; vgl. Jenkins/CACI-SRSP 15.4.2014). Laut Türkei-Spezialisten, wie Gareth Jenkins, sind die Beweise - einschließlich Geständnissen - dafür, dass eine Komplottgruppe von Gülen-Anhängern hinter Fällen wie Ergenekon, Sledgehammer und dem Spionagering von Izmir steckte, inzwischen so umfassend, dass sie unwiderlegbar sind (Jenkins/CACI-SRSP 15.4.2014). Schrittweise Kriminalisierung durch den Staat: von der kriminellen Vereinigung zur Ter rororganisation Im Dezember 2013 kam es zum offenen politischen Zerwürfnis zwischen der AKP und der Gü len-Bewegung, als Gülen-nahe Staatsanwälte und Richter Korruptionsermittlungen gegen die Familie Erdoğans (damals Ministerpräsident) sowie Minister seines Kabinetts aufnahmen (AA 24.8.2020, S. 4; vgl. DFAT 16.5.2025, S. 20). Erdoğan beschuldigte daraufhin Gülen und seine 28

Anhänger, die AKP-Regierung durch Korruptionsuntersuchungen zu Fall bringen zu wollen, da mehrere Beamte und Wirtschaftsführer mit Verbindungen zur AKP betroffen waren, und Unter suchungen zu Rücktritten von AKP-Ministern führten (MEE 25.7.2016). In der Folge versetzte die Regierung die an den Ermittlungen beteiligten Staatsanwälte, Polizisten und Richter (BPB 1.9.2014) und begann schon seit Ende 2013 darüber hinaus, in mehreren Wellen Zehntausende mutmaßliche Anhänger der Gülen-Bewegung in diversen staatlichen Institutionen zu suspen dieren, zu versetzen, zu entlassen oder anzuklagen. Die Regierung verfolgte ferner unter dem Vorwand der Unterstützung der Gülen-Bewegung Journalisten strafrechtlich und zerschlug Me dienkonzerne, Banken sowie andere Privatunternehmen durch die Einsetzung von Treuhändern und enteignete diese teilweise (AA 24.8.2020, S. 4; vgl. DFAT 16.5.2025, S. 20). Ein türkisches Gericht hatte im Dezember 2014 einen Haftbefehl gegen Fethullah Gülen erlas sen. Die Anklage beschuldigte die Gülen-Bewegung, eine kriminelle Vereinigung zu sein. Zur gleichen Zeit ging die Polizei gegen mutmaßliche Anhänger Gülens in den Medien vor (Standard 20.12.2014). Die Sicherheitskräfte waren landesweit mit einer Großrazzia gegen Journalisten und angebliche Regierungsgegner bei der Polizei vorgegangen (DW 14.12.2014). Am 27.5.2016 verkündete Staatspräsident Erdoğan, dass die Gülen-Bewegung auf Basis einer Entscheidung des Nationalen Sicherheitsrates vom 26.5.2016 als terroristische Organisation registriert wird (HDN 27.5.2016). Mitte Juni 2017 definierte das Kassationsgericht die Gülen-Bewegung als bewaffnete terroristische Organisation. In dieser Entscheidung wurden auch die Kriterien für die Mitgliedschaft in dieser Organisation festgelegt (UKHO 1.2.2018, S. 8; vgl. Sabah 17.6.2017). Verbindungen zu Einrichtungen der Gülen-Bewegung In der Vergangenheit umfasste die Gülen-Bewegung in der Türkei verschiedene Einrichtungen wie Schulen, Studentenhäuser, Krankenhäuser sowie kulturelle und karitative Einrichtungen. Die herausragende Qualität und der gute Ruf dieser Institutionen zogen sowohl engagierte Gülenis ten als auch solche an, die der Bewegung nicht angehörten. Daher waren in der Vergangenheit Millionen von Menschen in der Türkei auf die eine oder andere Weise mit der Gülen-Bewegung verbunden. Angesichts dieses früheren Umfanges der Gülen-Bewegung war es nicht immer klar, wie die türkischen Behörden entschieden, gegen welche Gülenisten sie vorgehen sollten (MBZ 31.8.2023, S. 42). Folglich ist es durchaus möglich, dass jemand an einer Gülen-Einrich tung studiert, für diese gearbeitet, oder etwa ein Konto bei der Asya Bank (galt als Hausbank der Gülen-Bewegung) gehabt hat, ohne Gülenist im ideologischen Sinne zu sein. Eine solche Person kann dennoch mit der Gülen-Bewegung in Verbindung gebracht werden und infolge dessen persönliche Probleme mit den Behörden bekommen. Umgekehrt konnten in einigen Fällen wohlhabende tatsächliche oder angebliche Gülenisten persönliche Probleme mit den Behörden vermeiden, indem sie Beamte bestachen. Diese Praxis ist als FETÖ Borsası (wörtlich „ FETÖ-Börse“) bekannt. Durch die Zahlung von Bestechungsgeldern oder die Übergabe eines Unternehmens konnte ein (mutmaßlicher) Gülenist erreichen, dass sein erzwungener berufli cher Rücktritt rückgängig gemacht oder er von der Fahndungsliste gestrichen wurde. Zudem gab es Fälle von AKP-Politikern, die Verbindungen zur Gülenbewegung hatten, aber durch ihren politischen Einfluss einer strafrechtlichen Verfolgung entrannen (MBZ 2.3.2022, S. 36, 38). 29

Die türkische Regierung beschuldigt die Gülen-Bewegung, hinter dem Putschversuch vom 15.7.2016 zu stecken, bei dem mehr als 250 Menschen getötet wurden. Für eine Beteiligung gibt es zwar zahlreiche Indizien, eindeutige Beweise aber ist die Regierung in Ankara bislang schuldig geblieben (DW 13.7.2018). Fethullah Gülen selbst verurteilte den Putschversuch und leugnete jede Beteiligung (MBZ 2.2025a, S. 45). Die Gülen-Bewegung wird von der Türkei als „ Fetullahçı Terör Örgütü – (FETÖ)“, „ Fetullahistische Terror Organisation“, tituliert, meist in Kombination mit der Bezeichnung „ Paralel Devlet Yapılanması (PDY)“, die „ Parallele Staatsstruktur“ bedeutet (AA 20.5.2024, S. 4; vgl. UKHO 1.2.2018, S.6). Die EU stuft die Gülen-Bewegung weiterhin nicht als Terrororganisation ein und steht auf dem Standpunkt, die Türkei müsse substanzielle Beweise vorlegen, um die EU zu einer Änderung dieser Einschätzung zu bewegen (Standard 30.11.2017; vgl. Presse 30.11.2017). Auch für die USA ist die Gülen- bzw. Hizmet-Bewegung keine Terrororganisation (TM 2.6.2016). Ausmaß der Verfolgung Viele der nach dem Putschversuch von 2016 festgenommenen Personen sollen in Haft gefol tert worden sein. Amnesty International und Human Rights Watch dokumentierten Fälle von Schlägen, Zwangsstellungen, Verweigerung von Nahrung, Wasser und medizinischer Versor gung, Scheinhinrichtungen, sexuellen Übergriffen und Vergewaltigungen. Die Folter wurde in der Regel von Polizisten verübt, häufig während Verhören in informellen Haftanstalten und manchmal unter Aufsicht von Polizeiarztinnen und -ärzten. Zu den Opfern gehörten Richter, Staatsanwälte, Polizisten, Soldaten und andere Beamte. Die Inhaftierten waren auch anderen Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt, darunter die Verweigerung des Zugangs zu oder der Wahl von Rechtsanwälten und die Inhaftierung über lange Zeiträume ohne Anklage. Im Jahr 2019 gab es glaubwürdige Berichte über das Verschwinden und die Folterung mutmaßlicher Gülen-Anhänger, die ehemalige Mitarbeiter des Außenministeriums waren (DFAT 16.5.2025, S. 21). Laut Medienberichten zum achten Jahrestag (2024) des Putschversuches im Juli 2016 wurden seither 705.172 Personen, die mit der Gülen-Bewegung in Verbindung gebracht werden, ge richtlich belangt. 125.456 Personen wurden verurteilt und 104.448 Personen freigesprochen. Inhaftiert sind 13.251 Gülen-Mitglieder, darunter 10.365 rechtskräftig Verurteilte. Gegen 61.796 Personen laufen noch Ermittlungen. 23.052 befinden sich in Verfahren vor unteren Gerich ten. 357.205 Ermittlungen wurden ohne Anklageerhebung abgeschlossen. 1.634 vermeintli che Gülen-Mitglieder wurden in 289 Verfahren im Zusammenhang mit dem Putschversuch zu schweren lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt, weitere 1.366 erhielten lebenslange Haftstra fen und 1.891 verbüßen unterschiedlich lange Gefängnisstrafen (TR-Today 15.7.2024; vgl. TM 10.4.2021). Im Dezember 2023 bestätigte das Kassationsgericht (Oberstes Appellationsgericht) die erschwerte lebenslange Haft in 77 Fällen. Von in Summe 469 Verurteilungen bestätigte das Gericht 430, während 39 freigesprochen wurden (Duvar 19.12.2023; vgl. TM 19.12.2023). Im Zuge der massiven Verfolgung nach dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016 wur den - die Zahlen variieren - über 540.000 Personen (zeitweise) festgenommen (SCF 5.10.2020). Annähernd 23.900 Armeeangehörige (TR-Today 15.7.2024), darunter 150 der 326 Generäle 30

und Admirale, 4.145 Richter und Staatsanwälte (SCF 5.10.2020), 40.000 Polizeibeamte (TR- Today 15.7.2024) und mehr als 5.000 Akademiker wurden entlassen. Über 160 Medien, mehr als 1.000 Bildungseinrichtungen und fast 2.000 NGOs wurden ohne ordentliches Verfahren ge schlossen (SCF 5.10.2020). 150.000 öffentlich Bedienstete, inklusive Wissenschaftler, wurden entlassen (MEI 20.10.2022, S2; vgl. SCF 5.10.2020). Seit Juli 2016 hat die Regierung etwa 1.000 Unternehmen beschlagnahmt oder Verwalter für diese ernannt, denen Verbindungen zur Gülen-Bewegung vorgeworfen werden, zuletzt auch 2025. Seit 2016 (bis 2023) wurden Ver mögenswerte im Wert von rund 50 Milliarden US-Dollar von mutmaßlichen Gülen-Anhängern beschlagnahmt (DFAT 16.5.2025, S. 21). Die türkischen Behörden machten unmittelbar nach dem Tode von Fethulla Gülen am 20.10.2024 klar, dass sie ihren Kampf gegen die Gülen-Bewegung unvermindert fortsetzen würden. Bereits am 21.10.2024 kündigte Außenminister Hakan Fidan an, dass die Regierung in ihrem Kampf gegen die Gülen-Bewegung nicht nachlassen werde (MBZ 2.2025a, S. 45f.). Das Verteidigungs ministerium forderte die Gülen-Anhänger auf, sich unverzüglich zu ergeben (Duvar 22.10.2024). Die systematische Strafverfolgung mutmaßlicher Gülen-Anhängeri dauert folglich weiterhin an. Die sogenannten „ Säuberungsmaßnahmen“ zielen darauf ab, diese Personen aus allen rele vanten Institutionen zu entfernen (BAMF 4.11.2024b, S. 4; vgl. TM 3.12.2024). Die Verhaftungen erfolgen in Wellen und können sich über das ganze Land erstrecken. Oft genügen zur Einlei tung einer Strafverfolgung schon Informationen von Dritten, dass eine angeführte Person der Gülen-Bewegungangehört oder ihr nahesteht. Betroffen sind auch österreichische Staatsbürger sowie türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Österreich (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 29). Im Juli 2024 nannte Justizminister Yerlikaya die Zahl von 9.738 Personen, welche etwa innerhalb eines Jahres bei 6.025 Einsätzen festgenommen wurden (HDN 15.7.2024; vgl. AnA 17.7.2024), wobei die Gerichte die Inhaftierung von rund 1.500 Personen anordneten und über 1.750 Frei gelassene gerichtliche Aufsichtsmaßnahmen verhängten (TM 26.5.2024; vgl. BAMF 29.7.2024, S. 10). Exemplarisch sind wegen der schieren Anzahl hier nur die umfangreichsten Operationen gegen vermeintliche Gülen-Mitglieder seit Herbst 2024 [letzte Teilaktualisierung der Länderinformatio nen] angeführt, wobei es nicht bloß um die Anzahl, sondern auch um die Art der Vorwürfe und Personengruppen geht. - Weiter zurückliegende Beispiele finden sich in älteren Versionen der Länderinformationen zur Türkei: Mitte Oktober 2024 wurden 13 Personen mit Verbindung zur Gülen-Bewegung in Manisa festge nommen, und gleichzeitig gab die Generalstaatsanwaltschaft in der Hauptstadt Ankara bekannt, dass zwölf von 33 Verdächtigen, die im Zusammenhang mit der Unterwanderung der türkischen Land- und Luftstreitkräfte festgenommen worden waren, sich für eine Zusammenarbeit mit den Behörden entschieden und 133 Personen als Mitglieder der Gülen-Bewegung identifizierten (DS 16.10.2024). Innenminister Yerlikaya gab Mitte November bekannt, dass bei Einsätzen in 66 Provinzen 459 Verdächtige festgenommen wurden. Laut Minister seien die Verdächtigen auch an der Propaganda der Gülen-Bewegung [offizielle Diktion der Quelle: „Terrorgruppe“] in den sozialen Medien beteiligt gewesen und hätten über öffentliche Telefone miteinander kommuni ziert, eine Methode, die häufig eingesetzt würde, um nicht entdeckt zu werden. Sie nutzten auch 31

ByLock, so der Innenminister (DS 19.11.2024; vgl. SCF 19.11.2024). Im Dezember 2024 gab es mehrere Verhaftungswellen: Am 10. Dezember wurden 24 Verdächtige festgenommen. 21 von ihnen sollen 2012 an der Manipulation öffentlicher Personalauswahlprüfungen beteiligt gewesen sein. Ein weiterer Verdächtiger, angeblich der Buchhalter der Stadt Konya, wurde als Nutzer von ByLock verhaftet, während gegen zwei weitere Verdächtige ermittelt wird, weil sie sich in Gülen-Studentenwohnheimen aufhielten und die ByLock-App verwendeten (DS 10.12.2024). Am 18. Dezember wurden laut Innenminister in neun Provinzen 41 vermeintliche Gülen-Mit glieder als Bestandteil eines angeblich geheimen Netzwerkes in der Armee bzw. den Behörden verhaftet, die überdies laufende Verbindungen zu hochrangigen flüchtigen Gülen-Funktionären gehabt hätten (DS 18.12.2024). Und am 24. Dezember wurden 31 Gülen-Verdächtige in der Provinz Izmir festgenommen (DS 24.12.2024). Auch 2025 setzten sich die Verhaftungen von vermeintlichen Gülen-Mitgliedern oder -Unterstützern fort. - Am 7. Jänner wurde berichtet, dass 22 von 37 gesuchten Verdächtigen festgenommen wurden. Sie waren vermeintlich Teil eines Firmennetzwerkes, welches die Gülenbewegung finanziert. Sie wurden laut Behördenangaben durch Aussagen ehemaliger Gülen-Mitglieder, die mit den Behörden zusammengearbeitet haben, sowie durch Finanzermittlungen und Unter suchungen digitaler Beweise, die bei früheren Ermittlungen sichergestellt wurden, identifiziert. Die Verdächtigen hätten über Kuriere Bargeld sowohl an Gülen-Mitglieder, die wegen ihrer Verbindungen zur Gruppe inhaftiert sind, als auch an deren Familien übermittelt (DS 7.1.2025; vgl. SCF 10.1.2025, TM 10.1.2025). Bereits am 10. Jänner verkündete der Innenminister die Verhaftung weiterer 63 Personen bei Operationen in 38 Provinzen (SCF 10.1.2025; vgl. TM 10.1.2025), und am 14.Jänner die Festnahme von weiteren 110 Verdächtigen in 23 Provinzen, welche zum akademischen und militärischen Netzwerk der Gülen-Bewegung gehören sollen (DS 14.1.2025; vgl. SCF 14.1.2025). Bereits am 18. Jänner vermeldete das Innenministerium die Festnahme von 47 Verdächtigen in 23 Provinzen im Rahmen der „ KISKAÇ-35“-Operationen (TC-İB 18.1.2025) und am 24.1.2025 die Festnahme im Zuge der „ KISKAÇ-36“-Operationen von 71 Verdächtigen in 23 Provinzen (TC-İB 24.1.2025; vgl. DS 24.1.2025, SCF 24.1.2025). Am 21.2.2025 verhaftete die Polizei insgesamt 353 Personen, darunter auch zehn Beamte, die verdächtigt werden, der Gülen-Bewegung anzugehören. Die Verdächtigen wurden bei Razzien in 31 Städten festgenommen. Ihnen wird laut Innenminister vorgeworfen, eine Dö ner-Kebab-Restaurantkette benutzt zu haben, um Geld für die Gülenbewegung zu sammeln (DS 21.2.2025; vgl. SCF 21.2.2025, C8 22.2.2025). Bei Operationen zwischen dem 19. und 27. März in 27 Provinzen wurden 73 Personen festgenommen. Hiervon wurden 48 inhaftiert, 16 unter richterlicher Aufsicht freigelassen und gegen den Rest wurde weiter ermittelt. In nenminister Yerlikaya sagte, die Festgenommenen stünden im Verdacht, über Münztelefone Kontakt zu halten, die verschlüsselte Nachrichten-App ByLock zu benutzen und Inhalte der Gülen-Bewegung in sozialen Medien zu verbreiten. Einige Personen wurden auch beschuldigt, Teil der angeblichen „ militärischen und aktuellen Strukturen“ der Gülen-Bewegung zu sein oder sie finanziell zu unterstützen (TM 4.4.2025; vgl. TC-İB 4.4.2025). Am 5. Mai verkündete die Polizei von Ankara die Verhaftung von 33 vermeintlichen Gülenisten, wovon 20 in öffentlichen Einrichtungen arbeiteten. Die Verdächtigen sollen für die Rekrutierung neuer Mitglieder und die Überprüfung deren Loyalität zuständig gewesen sein (DS 5.5.2025; vgl. Hürriyet 5.5.2025). In 32

der ersten Mai-Hälfte wurden in weiteren Operationen in 47 Provinzen, vor allem in Gaziantep, 225 Verdächtige festgenommen. Am 10.5.2025 wurden vier weitere vermeintliche Gülen-Mit glieder verhaftet, wobei die Behörden behaupteten, dass es sich um eine Gruppe handle, die Reisen von jungen Türken in Länder des Balkans (Albanien, Nordmazedonien, Bosnien und Montenegro) organisiere, wo diese in Kursen indoktriniert und rekrutiert würden (DS 11.5.2025; vgl. TR-Today 11.5.2025, TC-İB 6.5.2025). Bereits am 16.5.2025 gab das Innenministerium die Verhaftung weiterer 101 Personen bei Razzien in 27 Provinzen bekannt. Den Inhaftierten wurde vorgeworfen, über Münztelefone Kontakt zu Mitgliedern der Bewegung aufgenommen, die Bewegung finanziell unterstützt und Propaganda in sozialen Medien verbreitet zu haben (TC-İB 16.5.2025; vgl. SCF 16.5.2025). Und am 23.05.2025 wurden zeitgleich in 36 Provin zen Razzien gegen mutmaßliche Angehörige der Gülen-Bewegung durchgeführt, wobei 56 Militärangehörige in Untersuchungshaft genommen wurden (BAMF 26.5.2025, S. 9; vgl. DS 23.5.2025). Und Mitte Juni wurd innerhalb von zwei Tage 56 Personen festgenommen, wobei der Fokus auf die Zerschlagung der laut Behördenangaben geheimen Infrastruktur der Bewegung, ihrer Rekrutierungsbemühungen unter Jugendlichen und ihrer Fluchthelferringe, die illegale Grenzübertritte ermöglichten, gelegt wurde (SCF 17.6.2025). In der zweiten Junihälfte erfolgte eine größere Verhaftungswelle, bei der fast 250 Personen in über 40 Provinzen festgenommen wurden, darunter 163 aktive Militärangehörige inklusive mehreren Offizieren sowie 21 aktive und ehemalige Polizisten (SCF 24.6.2025; vgl. BIRN 24.6.2025, TM 24.6.2025). Gefahren für Rechtsvertreter Anwälte von angeblichen Gülen-Mitgliedern laufen Gefahr, selbst in den Verdacht zu gera ten, Verbindungen zur Gülen-Bewegung zu haben (MBZ 18.3.2021, S. 40f.). Im September 2020 wurden 47 Rechtsanwälte festgenommen, weil diese angeblich durch ihre Rechtsbera tung Gülen-Mitglieder unterstützt hätten (AlMon 16.9.2020; vgl. ICJ 14.9.2020). Siehe auch Kapitel:Rechtsstaatlichkeit / Justizwesen. Verfolgung von Nicht-Gülen-Mitgliedern als Gülenisten Mitunter werden „ Nicht-Gülenisten“ als Gülen-Mitglieder oder -Anhänger gebrandmarkt und von den Behörden als solche behandelt. In diesem Fall könnten beispielsweise Oppositionelle, Ge werkschaftsaktivisten, Journalisten und Akademiker, die sich kritisch über Regierung äußern, in Betracht kommen (MBZ 2.2025a, S. 50). Beispielsweise wurde die Anwältin Dilek Ekmek çi strafrechtlich verfolgt und wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung in Untersuchungshaft genommen. Sie hatte sich u. a. kritisch über den sexuellen Missbrauch von Minderjährigen in staatlichen Einrichtungen geäußert (MBZ 2.2025a, S. 50; vgl. MLSA 24.10.2024, Agos 31.1.2025). Ende Jänner 2025 entschied das Gericht die Freilassung von Ekmekçi nach 152 Tagen Haft. Sie wurde jedoch wegen „ wissentlicher und vorsätzlicher Unter stützung einer illegalen Organisation“ zu einem Jahr und 13 Monaten verurteilt und mit einer Ausreisesperre belegt (MLSA 31.1.2025; vgl. Agos 31.1.2025). Kriterien für die Verfolgung durch die Justiz 33

Menschenrechtsbeobachter haben ihre Besorgnis darüber zum Ausdruck gebracht, dass die türkische Regierung keine klaren Kriterien veröffentlicht hat, anhand derer Personen mit der Gülen-Bewegung in Verbindung gebracht werden können (DFAT 16.5.2025, S. 20; vgl. AA 20.5.2024). - Bereits am 3.9.2016 veröffentlichte die Tageszeitung Milliyet eine nicht erschöp fende „ Liste von sechzehn Kriterien“, die als Richtschnur für die Entlassung aus staatlichen Funktionen und für die Strafverfolgung dient. Personen, welche die angeführten Kriterien in unterschiedlichem Maße erfüllen, werden offiziellen Verfahren unterzogen und als „Terroristen“ bezeichnet - gefolgt von ihrer Festnahme oder Inhaftierung. Nach Angaben der Regierung war das Ziel der Erstellung einer solchen Liste, „ die Schuldigen von den Unschuldigen zu unterschei den“ (JWF 1.1.2019, S. 10). In der Regel reicht das Vorliegen eines der folgenden Kriterien, um eine strafrechtliche Verfolgung als mutmaßlicher Gülenist einzuleiten: Das Nutzen der verschlüs selten Kommunikations-App „ ByLock“; Geldeinlagen bei der Bank Asya nach dem 25.12.2013 (bis zu deren Schließung 2016) oder anderen Finanzinstituten der sogenannten „ parallelen Struktur“; Abonnement bei der Nachrichtenagentur Cihan oder der Zeitung Zaman; Spenden an Gülen-Strukturen zugeordnete Wohltätigkeitsorganisationen (AA 20.5.2024, S. 6f.; vgl. MBZ 2.3.2022, S. 38, JWF 1.1.2019, S.11, Statewatch/Turkut/Yıldız 11.2021, S. 10f.), wie der einst größten Hilfsorganisation des Landes „ Kimse Yok Mu“ (JWF 1.1.2019, S.11); der Besuch der eigenen Kinder von Schulen, die der Gülen-Bewegung zugeordnet werden; Kontakte zu Gülen zugeordneten Gruppen/Organisationen/Firmen, inklusive Beschäftigungsverhältnisse und die Teilnahme an religiösen Versammlungen der Gülen-Bewegung (AA 20.5.2024, S. 7; vgl. JWF 1.1.2019, S. 11, Statewatch/Turkut/Yıldız 11.2021, S. 10f.). Weitere Kriterien sind u. a.: die Unter stützung der Gülen-Bewegung in Sozialen Medien, der mehrmalige Besuch von Internetseiten der Gülen-Bewegung und die Nennung durch glaubwürdige Zeugenaussagen, Geständnisse Dritter oder schlicht infolge von Denunziationen (JWF 1.1.2019, S. 11; vgl. Statewatch/Turkut/ Yıldız 11.2021, S. 10f.). Eine Verurteilung setzt in der Regel das Zusammentreffen mehrerer dieser Indizien voraus, wobei der Kassationsgerichtshof präzisiert hat, dass für die Mitglied schaft in einer bewaffneten Terrororganisation ein gewisser Bindungsgrad der Person an die Organisation nachgewiesen werden muss (AA 20.5.2024, S. 7). Der Kassationsgerichtshof ent schied im Mai 2019, dass weder das Zeitungsabonnement eines Angeklagten (SCF 6.8.2019) noch die Einschreibung seines Kindes in einer Gülen-Schule für eine Verurteilung ausreicht (AA 20.5.2024, S. 7; vgl. SCF 6.8.2019). Siehe zu den Kriterien weiter unten das Urteil des EGMR vom 3.12.2024 als Beispiel! Laut Eigenangaben differenzieren die türkischen Behörden unterschiedliche Schweregrade der Beteiligung an der Gülen-Bewegung. Im März 2020 erklärte die 16. Strafkammer des Ver fassungsgerichts, zuständig für Berufungen in allen Gülen-Fällen, dass es sieben Stufen der Beteiligung gäbe: Die erste Ebene besteht aus den Menschen, welche die Gülen-Bewegung aus guter Absicht (finanziell) unterstützten. Die zweite Schicht besteht aus einer loyalen Gruppe von Menschen, die in Gülen-Organisationen arbeiteten und mit der Ideologie der Gülen-Be wegung vertraut war. Die dritte Gruppe besteht aus Ideologen, die sich die Gülen-Ideologie zu eigen machten und in ihrem Umfeld verbreiteten. Die vierte Gruppe waren Inspektoren, die die verschiedenen Formen von Dienstleistungen der Gülen-Bewegung überwachten. Die fünfte Gruppe setzte sich aus Beamten zusammen, die für die Erstellung und Umsetzung der Politik 34

der Gülen-Bewegung verantwortlich war. Die sechste Gruppe bildet den elitären Kreis, der den Kontakt zwischen den verschiedenen Segmenten der Organisation aufrechterhielt bzw. dies immer noch tut, aber auch Personen aus ihren Positionen entlassen konnte. Die siebte Gruppe besteht aus siebzehn Personen, die direkt von Fethullah Gülen ausgewählt wurden und an der Spitze der Gülen-Bewegung stehen (MBZ 18.3.2021, S. 38f.). Während praktisch jeder mit einem Gülen-Hintergrund strafrechtlich belangt werden kann, stehen mutmaßliche Gülenisten im Sicherheitsapparat, wie Militärs und Gendarme, besonders im Visier. Auch Personen, die Führungspositionen in Gülen-Institutionen wie den Gülen-Schulen, der Fatih-Universität in Is tanbul und der Tageszeitung Zaman innehatten, fallen den Behörden eher negativ auf (MBZ 2.3.2022, S. 38). Die Entscheidung der türkischen Behörden, vermeintliche Gülen-Mitglieder strafrechtlich zu verfolgen, oder nicht, scheint sehr willkürlich zu sein (MBZ 2.3.2022, S. 39). Moderate Rich ter tendieren zwischen „ passiven“ und „ aktiven“ Gülen-Mitgliedern zu unterschieden, während Hardliner keine Unterscheidung hinsichtlich der Kriterien einer vermeintlichen Unterstützung oder Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung machen. Infolgedessen ist der Ausgang der Straf verfahren, insbesondere hinsichtlich des Strafausmaßes, willkürlich (MBZ 18.3.2021, S. 41). Zu dieser Unberechenbarkeit trägt u. a. der Umstand bei, dass die Behörden weder objektive Krite rien verwenden, noch sie diese konsequent anwenden (MBZ 2.3.2022, S. 39). Selbst Personen, die keine Gülenisten waren, wie Oppositionspolitiker, Menschenrechtsaktivisten und linke Ge werkschaftsmitglieder, wurden beschuldigt, Verbindungen zur Gülen-Bewegung zu haben (MBZ 31.8.2023, S. 43). Anlässlich des Todes von Fethullah Gülen am 20.10.2024 wurden Personen, die öffentlich ihr Beileid zum Ausdruck brachten strafrechtlich wegen Terrorismusunterstützung verfolgt. So wur de der Chefredakteur der Zeitung Yeni Asya, Kazım Güleçyüz, wegen einer diesbezüglichen Beileidsbekundung auf der Plattform „ X“ mit den Worten: „Allah habe ihn selig“ festgenom men (DTJ 28.10.2024; vgl. NaT 24.10.2024). Die Istanbuler Generalstaatsanwaltschaft ordnete die Verhaftung von insgesamt 15 Verdächtigen an, von denen tatsächlich vier festgenommen wurden, weil sie Gülen in sozialen Medien nach seinem angeblichen Tod gelobt hatten (NaT 24.10.2024). Die Verwandten von hochrangigen Gülenisten sind besonders gefährdet, die Aufmerksamkeit der Behörden auf sich zu ziehen (MBZ 2.2025a, S.52). So wurde nebst Selahaddin Gülen, ein Neffe Fetullah Gülens, der bereits 2021 vom Nationale Nachrichtendienst MİT von Kenia in die Türkei verbracht wurde, auch Asiye Gülen, eine Nichte Fetullah Gülens, und deren Ehemann im Juni 2023 in Istanbul festgenommen (MBZ 31.8.2023, S.45). Und Mitte Juli 2023 verhafte ten die Istanbuler Polizei und der Geheimdienst MİT Selman Gülen, einen weiteren behördlich gesuchten Neffen Fetullah Gülens, die Frau des Ersteren, Nur Gülen, sowie deren Eltern (DS 14.7.2023). Generell sind Familienangehörige mutmaßlicher Gülen-Anhänger betroffen gewe sen, unter anderem durch Reiseverbote und/oder Passbeschlagnahmungen, das Einfrieren von Vermögenswerten und die Entlassung aus dem öffentlichen Dienst (DFAT 16.5.2025, S. 21). Es 35
