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Dieses Dokument ist Teil der Anfrage „Länderinformationsblätter“
Kundgebungen von Gruppen sexueller Minderheiten werden systematisch verboten bzw. ge waltsam unterbunden, so auch die landesweit größte Pride-Parade in Istanbul im Juni 2023 zum neunten Mal in Folge. Als Grund für die Untersagung werden in der Regel Sicherheitsgründe angegeben. Trotz gegenteiliger Gerichtsentscheidung halten Gouverneure am Verbot fest (ÖB Ankara 4.2025, S.52). Auch Ende Juni 2024 verbot der Istanbuler Gouverneur die Pride-Parade und ließ das Stadtzentrum abriegeln, und zwar ohne Begründung. Es hieß lediglich, dass „ Ille gale Gruppen“ zu einem nicht genehmigten Protestmarsch aufgerufen hätten (FAZ 30.6.2024; vgl. Zeit Online 1.7.2024, DlF 1.7.2024). Trotz des Verbots versammelten sich Hunderte Men schen bei einer Pride-Parade. Der Marsch ging ohne Zusammenstöße oder Polizeigewalt von statten. Allerdings gab es einige Festnahmen (Zeit Online 1.7.2024; vgl. DlF 1.7.2024). Beispiele aus den Jahren vor 2023 sind älteren Versionen der Länderinformationen zu entneh men. Zahlreiche LGBTI-Organisationen berichten von einem anhaltenden Gefühl der Verwundbarkeit, da ihre Rede-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit weiterhin eingeschränkt sind (USDOS 22.4.2024, S.77; vgl. EP 7.6.2022, S. 15, Pt. 21, EC 19.10.2021, S. 40). Menschenrechtsakti visten führen die ihrer Einschätzung nach zunehmende negative öffentliche Stimmung und die Gewalt gegen Mitglieder sexueller Minderheiten auf eine Zunahme der gegen Letztere gerich teten Rhetorik von Regierungsvertretern zurück, die durch regierungsnahe Medien verstärkt wird. Präsident Erdoğan verglich die Achtung der Rechte von LGBTQ-plus-Personen häufig mit Terrorismus und sprach von der „Abartigkeit namens LGBT“. Organisationen sexueller Minder heiten berichten, dass die Regierung in ihrer Rhetorik LGBTQ-plus-Themen zunehmend mit Terrorismus gleichsetzt (USDOS 22.4.2024, S.75, 77). Arbeitsplatz Umfragen unter Betroffenen deuten darauf hin, dass die Diskriminierung aufgrund der Ge schlechtsidentität, der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsmerkmale ein großes Hinder nis für LGBTQ-plus-Personen beim Zugang zu Beschäftigung darstellt. Sie sind oft gezwungen, ihre Identität zu verbergen, um das Risiko der Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Da das Risiko, diskriminiert zu werden, auch nach dem Einstellungsprozess weiter besteht, bestimmt diese Strategie ihr gesamtes Arbeitsleben. Die Geheimhaltung scheint im öffentlichen Sektor unver meidlich zu sein, im Gegensatz zum privaten Sektor. Während 2021 über 17 % im Privatsektor angaben, vollständig ihre sexuelle Orientierung offengelegt zu haben, betrug der Anteil im öf fentlichen Sektor lediglich 5 % (KAOS-GL 8.11.2021, S. 5f.). Denn das türkische Arbeitsrecht erlaubt die Entlassung von Regierungsangestellten, die „ sich in einer für den öffentlichen Dienst unwürdigen, schändlichen und beschämenden Weise verhalten“, während andere Gesetze die nicht näher definierte Praxis der „ Unsittlichkeit“ unter Strafe stellen. Menschenrechtsbeobachter berichten, dass Arbeitgeber diese Bestimmungen nutzen, um Mitglieder sexueller Minderheiten zu diskriminieren (DFAT 16.5.2025, S. 31). Die Untersuchung von Kaos-GL zur Situation von Angehörigen sexueller Minderheiten, die im öffentlichen und privaten Sektor arbeiten ergab, dass Arbeitslosigkeit unter ihnen weit verbrei tet ist und die Angst vor Diskriminierung und Entlassung zunimmt (ILGA 20.2.2023). Mitunter 305

entscheiden Gerichte im Sinne Betroffener. - Beispielsweise wurde Larin Kayataş, eine Trans gender-Ärztin, die 2021 aus dem Dienst entlassen wurde, weil sie angeblich „ die allgemeine Moral untergräbt“, wieder eingestellt, nachdem ein Berufungsgericht entschied, dass ihre Ent lassung rechtswidrig war. Kayataş wurde außerdem finanziell entschädigt (Bianet 21.7.2023). Meinungs- und Informationsfreiheit Das Gesetz verbietet zwar keine bestimmten Bücher oder Publikationen, aber Gerichtsent scheidungen führen zu Distributions- oder Verkaufsverboten für bestimmte Bücher und Zeit schriften. Der Presserat, der für die Verhängung von Werbeverboten zuständig ist, änderte im Juli 2022 die Richtlinien zur Presseethik. Die Änderungen umfassten neue Bestimmungen, die sich vermeintlich auf sexuelle Minderheiten beziehen und Veröffentlichungen verbieten, die „ die Familienstruktur, die die Grundlage der Gesellschaft ist, stören“ und „ die gemeinsamen natio nalen und moralischen Werte der türkischen Gesellschaft schwächen“. Das Gremium dehnte die Verpflichtungen der Presseethik auf Websites und Social-Media-Konten von Zeitungen aus (USDOS 22.4.2024, S. 31; vgl. USDOS 20.3.2023, S. 39). Im November 2020 beschloss das Handelsministerium, dass alle Produkte mit LGBTI- und Regenbogen-Bezug auf Webseiten des Onlinehandels mit einer 18+ Warnung versehen werden müssen (ÖB Ankara 4.2025, S.52). Der Oberste Rundfunk- und Fernsehrat (RTÜK) verhängte (2022) eine Geldstrafe gegen Netflix wegen der Zeichentrickserie Jurassic World Camp Cretaceous wegen ihrer LGBT+-Figuren (ILGA 20.2.2023). Die Szenen, in denen sich „ zwei Mädchen küssten“, verstießen gegen den „ Grundsatz des Schutzes der allgemeinen Moral und der Familie“, so das RTÜK-Urteil. Die Be schreibung der Serie durch Netflix als „ Serie, die mit der Familie angesehen werden kann“, sei irreführend und könne Kinder unangemessenen Inhalten aussetzen, hieß es weiter. - Das Minis terium für Familie und Soziales hatte zuvor eine Beschwerde eingebracht (Bianet 18.8.2022). Das Verfassungsgericht entschied am 22.11.2023, dass das Zugangsverbot zu Hornet, einer Da ting-App für Schwule mit über drei Millionen Nutzer und Nutzerinnen, gegen die Meinungsfreiheit verstößt. Der Verfassungsgerichtshof entschied außerdem, dass die Gerichte, die Einsprüche gegen die Entscheidung zurückgewiesen haben, das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf verletzt haben. Zu den Entscheidungen des Verfassungsgerichts gehört auch die Zugangssper re für Hornet, die vom 8. Strafgerichtshof in Ankara am 6.8.2020 verhängt wurde (KAOS-GL 7.2.2024). Einstellungen und Handlungen gesellschaftlicher Gruppen und staatlicher Akteure Nachdem es im Herbst 2022 zu zahlreichen Anti-LGBTIQ-Demonstrationen kam (BAMF 7.11.2022, S. 11; vgl. Zeit Online 19.9.2022, AP 18.9.2022), folgte auch im September 2023 in Istanbul der von islamistischen Gruppen organisierte „ Great Family March“ gegen sexuelle Min derheiten, welcher unter dem Motto stand: „ LGBT-Propaganda sollte für unsere Kinder, unsere Familie und die Menschheit verboten werden“. Die Regulierungsbehörde RTÜK (Obersten Ra tes für Rundfunk und Fernsehen) genehmigte den Werbespot des Marsches mit dem Titel „ Sag Nein zu LGBT-Propaganda“, der dann im nationalen Fernsehen als „ öffentliche Bekanntma chung“ ausgestrahlt wurde (ILGA 2.2024; vgl. BIRN 13.9.2023, Duvar 18.9.2023). In Izmir nahm 306

die Polizei zehn Demonstranten vor dem RTÜK-Büro fest, die gegen die Entscheidung der türki schen Fernseh- und Rundfunkbehörde protestierten, im Fernsehen einen öffentlichen Aufruf zu senden, in dem die Bürger aufgefordert wurden, am Sonntag an einer Anti-LGBT-Kundgebung in Istanbul teilzunehmen (BIRN 13.9.2023; vgl. Duvar 13.9.2023, BAMF 18.9.2023). Umgekehrt schritt die Polizei nicht ein, als im Juni 2023 von der Anwaltskammer Izmir veranstaltetes Früh stück im Rahmen der Pride-Woche von einer aus LGBTIQ-feindlichen Aktivisten bestehenden Gegendemonstration angegriffen wurde. Diese Gegendemonstration bestand u. a. aus Anhän gern der nationalistischen Vatan Partisi (VP), der Jugendorganisation Türkiye Gençlik Birliği (TGB), der Grauen Wölfe und der AKP-Jugend (BAMF 4.11.2024a, S. 8). Der Rückzug der Türkei aus der Istanbuler Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt wurde u. a. mit dem Vorwurf verbunden, die Kon vention sei zum Schutze der Rechte sexueller Minderheiten missbraucht worden. Die Kommu nikationsdirektion der Präsidentschaftskanzlei erklärte, dass die Konvention von einer Gruppe von Menschen gekapert wurde, die versuchen, Homosexualität zu normalisieren - was mit den sozialen und familiären Werten der Türkei unvereinbar sei. Daher die Entscheidung, sich zu rückzuziehen (PRT-DC 22.3.2021). In Großstädten (Istanbul, Izmir, Ankara) und an der Südküste ist es in bestimmten Teilberei chen möglich, Homosexualität zu zeigen. Darüber hinaus, etwa in ländlichen Gebieten, ist sie gesellschaftlich nicht akzeptiert. Bei Bekanntwerden ihrer sexuellen Orientierung werden Ho mosexuelle, vor allem aber Transsexuelle, häufig von ihrem sozialen und beruflichen Umfeld ausgegrenzt oder belästigt und nicht selten Opfer von Gewalt und Diskriminierung (AA 20.5.2024, S. 15; vgl. BAMF 4.11.2024a, S. 10). Die Akzeptanz von gleichgeschlechtlichen Beziehungen bleibt in der türkischen Gesellschaft gering. In einer im Juli und August 2022 durchgeführten Um frage gaben 36,6 % der Befragten an, dass Homosexualität eine Perversion sei, die vom Staat verboten werden sollte. 33,5 % bezeichneten Homosexualität als eine Krankheit, die behandelt werden soll. 72,3 % der Befragten sehen Homosexuelle als schädlich für die Gesellschaft an. 17,6 % gaben an, dass Homosexualität respektiert werden soll. Während zwei Drittel aller Be fragten Homosexualität nicht für einen natürlichen Zustand hielten, lag dieser Wert bei jungen Menschen zwischen 18 und 24 Jahren bei 56,7 % (ÖB Ankara 4.2025, S.52). Opfer homophober Gewalt wenden sich in der Regel nicht an die Polizei, und wenn sie es doch tun, werden sie in vielen Fällen von der Polizei nicht angemessen behandelt oder geschützt. Betroffene erklärten auch, dass nicht jeder Staatsanwalt bereit sei, homophobe Gewalttäter zu verfolgen. Angehöri ge sexueller Minderheiten hätten überdies kein Vertrauen in ein ordnungsgemäßes Verfahren (MBZ 2.3.2022, S. 60). In Einzelfällen kommt es auch zu „ Ehrenmorden“ im Zusammenhang mit Homosexualität (AA 20.5.2024, S. 15). NGOs beziffern sie im niedrigen dreistelligen Bereich jährlich (AA 28.7.2022, S. 14). Die Türkei ist zudem einer der Staaten mit der höchsten Rate an Morden an Trans genderpersonen. So wurden zwischen 2008 und 2024 68 Transgenderpersonen ermordet (ÖB Ankara 4.2025, S.52). Auch 2024 kam es zu Übergriffen auf Mitglieder sexueller Minderhei ten, insbesondere Transgenderfrauen, gegen die es auch Attacken mit Todesfolge gab. - In Alsancak wurde eine Transfrau auf der Straße von einer Gruppe von Männern angegriffen, ohne 307

dass die Polizei oder Passanten eingegriffen hätten. Die Öffentlichkeit hinterfragte die man gelnde Polizeipräsenz und die Tatsache, dass die Angreifer trotz ihrer Festnahme kurz nach der Einvernahme wieder freigelassen wurden. Im Juli 2024 erlitt in Izmir eine Transfrau bei ei nem Messerangriff in ihrem Haus fast 50 Stichwunden (KAOS-GL 16.7.2024; vgl. ILGA 2.2025). Der Täter wurde wegen versuchten vorsätzlichen Mordes verhaftet. Im November wurde eine Transfrau in Samsun angegriffen und ihres Schmucks beraubt. Der Angreifer rechtfertigte seine Tat damit, dass das Opfer seine Männlichkeit verspottet habe – eine Verteidigung, die oft als Entschuldigung für Gewalt gegen LGBTI-Personen angeführt wird (ILGA 2.2025). Eine Gruppe von Personen griff Transgender-Frauen an, als diese Mitte April 2024 in İzmir einem Mann Erste Hilfe leisteten, der einen epileptischen Anfall hatte. Eine Transgender-Frau wurde angegriffen und laut Eigenaussagen ihrer Brieftasche und ihres Telefons beraubt. Anschließend begann die Gruppe, die Wohnungen von Transgender-Frauen mit Steinen zu bewerfen, wie Aufnahmen von Sicherheitskameras zeigten (Duvar 12.4.2024). „ Sexuelle Orientierung und Identität“ sind nicht im Katalog der Hassverbrechen gelistet. Deshalb können LGBTI-Personen bei Diskriminierungen oder Hassverbrechen ihre Rechte nur schwer geltend machen. In Gerichtsverfahren werden die Diskriminierungen entweder bagatellisiert oder die Intentionen der Täter relativiert. Gegen Angehörige sexueller Minderheiten gerichtete Hass reden werden als Ausdruck der freien Meinungsäußerung angesehen (ÖB Ankara 4.2025, S.52). Bereits am 23.5.2018 entschied das türkische Verfassungsgericht in diesem Zusammenhang, dass die Titulierung von Angehörigen sexueller Minderheiten in den Medien als Perverse nicht als Hassrede angesehen werden kann, da dies unter die Meinungsfreiheit fällt (ILGA 26.2.2019). Transgender-Personen Ihre Sichtbarkeit als Gruppe bedeutete, dass Transgender-Personen Diskriminierung, Ausgren zung und Aggression ausgesetzt sind. So sehen sich Transgender-Personen beispielsweise beim Zugang zum Arbeitsmarkt mit Hindernissen konfrontiert, und insbesondere Transfrauen sehen sich gezwungen, illegale Sexarbeit zu verrichten (MBZ 2.2025a, S. 89). Transgender-Per sonen haben oft Schwierigkeiten, Zugang zum Wohnungsmarkt und zur Gesundheitsversorgung zu erhalten. Transgender-Personen haben einen gesetzlichen Anspruch darauf, sich an die Be hörden zu wenden, um Schutz zu erhalten. In der Praxis melden Transgender-Personen jedoch nur selten transphobische Vorfälle der Polizei, vor allem weil die Polizei selbst im Ruf steht, gegenüber der Transgender-Gemeinschaft voreingenommen zu sein (MBZ 31.8.2023). Laut der Transaktivistin Gök Akyel spiegelt die Situation, mit der die Trans-Community konfrontiert ist, die LGBTI-plus-Phobie in der Gesellschaft wider: Trans-Personen und andere LGBTI-plus-Personen gehören zu den marginalisierten Minderheitengruppen, deren Rechte auf Leben, Gesundheit, Bildung, soziale Sicherheit und Wohnraum verletzt werden. Sie sind aufgrund der wirtschafts politischen Folgen von Hass Armut und Marginalisierung ausgesetzt (Bianet 10.7.2024). Im März 2024 ließ die Polizei auf Anordnung eines Distriktgouverneurs die Häuser von Transfrauen in der Bayram-Straße im Istanbuler Stadtteil Beyoğlu versiegeln. Die Bayram-Straße ist seit Jahrzehnten ein wichtiger Zufluchtsort für Transfrauen, und durch die Versiegelung wurden viele Transpersonen obdachlos (ILGA 2.2025). Anfang Juni 2022 zeigte sich auch das Euro päische Parlament (EP) u. a. tief besorgt „ im Zusammenhang mit körperlichen Angriffen und 308

Hassverbrechen, die sich vorrangig gegen Transgender-Personen richten“ (EP 7.6.2022, S. 15, Pt. 21). Polizeiliche Schikanen gegen transgender Sexarbeiter sind weit verbreitet, obschon Sexarbeit nicht illegal ist, oft um Bestechungsgelder zu lukrieren. Artikel 29 des Strafgesetzbuches sieht die Milderung von Strafen, einschließlich Körperverletzung oder Mord, vor, wenn der Angeklagte durch eine „ ungerechte Handlung“ provoziert wurde. Menschenrechtsgruppen behaupten, dass Richter routinemäßig Artikel 29 zur Milderung von Urteilen im Falle der Ermordung von Ange hörigen sexueller Minderheiten herangezogen haben (DFAT 16.5.2025, S. 30f.; vgl., USDOS 22.4.2024, S. 74f.). Die Berufungsgerichte haben diese Urteile teilweise mit der Begründung der „ unmoralische Natur“ des Opfers bestätigt (USDOS 22.4.2024, S. 74f.). Die Türkei gehört zu den Ländern mit den höchsten Mordraten an Transgender-Personen (EC 6.10.2020, S. 40). Der Zugang zu geschlechtsangleichenden Operationen sowie zu Gesundheits- und Sozial diensten war für Trans-Personen nach wie vor beschwerlich und problematisch (EC 8.11.2023, S. 42). Angehörige sexueller Minderheiten unter den Flüchtlingen UN-Organisationen berichten von Asylsuchenden und sog. „ bedingten Flüchtlingen“, die einer sexuellen Minderheit angehören, vor allem aus dem Iran, Afghanistan und Irak. Nach Angaben von Menschenrechtsgruppen werden diese Flüchtlinge aufgrund ihres Status als Angehörige einer sexuellen Minderheit sowohl von den Behörden als auch von der lokalen Bevölkerung diskriminiert und angefeindet. Vielen widerfuhr geschlechtsbasierte Gewalt. Die kommerzielle sexuelle Ausbeutung bleibt auch bei dieser Personengruppe ein großes Problem, insbesondere für transgender Personen (USDOS 22.4.2024, S.48f.). Verwaltungssanktionen und Abschiebungen von LGBTI+-Flüchtlingen haben laut ILGA 2022 zugenommen. Angehörige sexueller Minderheiten, die internationalen Schutz beantragen, wur den von der regionalen Migrationsbehörde in Städte abgeschoben, in denen Phobie gegenüber Angehörigen sexueller Minderheiten stärker verbreitet ist (ILGA 20.2.2023). Während ihres fünf monatigen Aufenthalts in einem Abschiebezentrum wurden die Grundrechte einer Transfrau ver letzt. Sie wurde in einem Einzelzimmer festgehalten, konnte keine Gemeinschaftsräume nutzen, hatte keinen Zugang zu HIV-Medikamenten und war diskriminierendem Verhalten ausgesetzt. Nach ihrer Entlassung wurden ihre Ausweispapiere und ihre Krankenversicherung annulliert, sodass sie bis zu ihrer Abschiebung keinen Zugang zu lebenswichtigen Medikamenten hatte. In Adana wurde der HIV-Status einer geflüchteten Transfrau ohne ihre Erlaubnis in den sozialen Medien offengelegt, sodass sie massiver Hassrede ausgesetzt wurde (ILGA 2.2025). NGO-Länder-Ranking Die NGO ILGA verortete die Türkei wie 2022 (ILGA 2022) auch 2023 an vorletzter Stelle (vor Aserbaidschan) von 49 europäischen Ländern hinsichtlich der Rechte sexueller Minderheiten. Bei einem theoretischen Bestwert von 100 % erreichte die Türkei lediglich 4 % [Österreich: Platz 19 mit 50,1 %] (ILGA 2023). 309

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innerhalb der Türkei einzuschränken. Die Provinz-Gouverneure können zum Beispiel Per sonen, die verdächtigt werden, die öffentliche Ordnung behindern oder stören zu wollen, den Zutritt oder das Verlassen bestimmter Orte in ihren Provinzen für eine Dauer von bis zu 15 Ta gen verbieten (ÖB Ankara 4.2025, S.9; vgl. USDOS 22.4.2024 S. 42), obschon die Verfassung vorschreibt, dass nur Richter die Bewegungsfreiheit von Bürgern limitieren können, und auch nur in Verbindung mit einer strafrechtlichen Untersuchung bzw. Verfolgung (USDOS 22.4.2024 S. 42). Bei der Einreise in die Türkei besteht allgemeine Personenkontrolle. Türkische Staatsangehö rige, die ein gültiges türkisches, zur Einreise berechtigendes Reisedokument besitzen, können die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. Bei Einreise wird überprüft, ob ein Ein trag im Fahndungsregister besteht oder Ermittlungs- bzw. Strafverfahren anhängig sind. An Grenzübergängen können Handy, Tablet, Laptop usw. von Reisenden ausgelesen werden, um insbesondere regierungskritische Beiträge, Kommentare auf Facebook, WhatsApp, Instagram etc. festzustellen, die wiederum in Maßnahmen wie z. B. Vernehmung, Festnahme, Strafanzeige usw. münden können. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier. Türkische Staatsangehörige dürfen nur mit einem gültigen Pass das Land verlassen. Die illegale Ein- und Ausreise ist strafbar. Die Ausrei sekontrollen an türkischen Grenzübergängen sind in der Regel streng. Ein- und Ausreisedaten werden genauestens erfasst und die Reisenden in den entsprechenden Fahndungssystemen überprüft (AA 20.5.2024, S. 24f.). Es ist gängige Praxis, dass Richter ein Ausreiseverbot gegen Personen verhängen, gegen die strafrechtlich ermittelt wird, oder gegen Personen, die auf Bewährung entlassen wurden. Eine Person muss also nicht angeklagt oder verurteilt werden, um ein Ausreiseverbot zu erhalten (MBZ 18.3.2021, S. 27f.; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 14f.). Es gibt keine eindeutige Antwort auf die Frage, inwieweit eine Person, die das negative Interesse der türkischen Behörden auf sich gezogen hat, das Land legal verlassen kann, oder eben nicht, während ein Strafverfahren noch anhängig ist. Es kommt auf die Umstände des Einzelfalls an (MBZ 2.3.2022, S. 27). Dennoch bestätigten Quellen des niederländischen Außenministeriums, dass in den meisten Fällen mit politischer Dimension, die im Kontext des Strafrechts als „Terrorfälle“ gelten, ein Ausreisever bot verhängt wird. In Fällen mit politischem Kontext sind insbesondere kurdische Aktivisten und (angebliche) Gülenisten betroffen. Die Häufigkeit von Ausreiseverboten in Fällen mit einer politischen Dimension gilt als „ weit verbreitet“ und „ systematisch“. Jedoch gibt es Fälle von un auffälligen politischen Aktivisten, gegen die kein Ausreiseverbot verhängt wurde (MBZ 2.2025a, S. 37). Mitunter wird sogar gegen Parlamentarier ein Ausreiseverbot verhängt. - So wurde im März 2022 auf richterliches Geheiß dem HDP-Abgeordneten Ömer Faruk Gergerlioğlu die Ausreise untersagt und sein Reisepass im Rahmen der gegen ihn eingeleiteten Ermittlungen eingezogen (Duvar 10.3.2022). Ende Dezember 2022 wurde, ebenfalls gegen einen HDP-Parlamentarier, eine Reisesperre verhängt. Zeynel Özen, der zudem schwedischer Staatsbürger und Mitglied des Harmonisierungsausschusses der Europäischen Union ist, wurde auf Anweisung des Innen ministers am Flughafen Istanbul ohne Begründung die Ausreise verweigert (Medya 26.12.2022; 313

vgl. Duvar 26.12.2022). Vor dem Hintergrund des Gazakrieges wurde im Oktober 2023 15 Par lamentariern der pro-kurdischen Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker - HEDEP [mit abgeänderter Abkürzung inzwischen DEM-Partei als Vorgängerin der HDP bzw. der Grünen Linkspartei] trotz parlamentarischer Immunität die Ausreise verweigert (Duvar 20.10.2023). Im Juni 2024 zogen die Behörden die Pässe von neun Ko-Bürgermeistern aus Gemeinden mit kurdischer Mehrheit ein, darunter die Bürgermeisterin von Diyarbakır Serra Bucak, ohne dass ein Gerichtsbeschluss vorlag. Das Innenministerium verteidigte den Schritt mit dem Hin weis auf die nationale Sicherheit und die öffentliche Ordnung (Medya 24.6.2024; vgl. Rudaw 24.6.2024). Im Februar 2025 untersagte ein Istanbuler Gericht zwei leitenden Funktionären des Wirtschaftsverbands TUSIAD im Rahmen einer Untersuchung ihrer Äußerungen zur Demokratie, die Erdogan als Untergrabung der Regierung bezeichnet hatte, die Ausreise ins Ausland. Auf der Generalversammlung der Organisation hatten TUSIAD-Präsident Orhan Turan und Omer Aras, der Vorsitzende der türkischen Bankensparte der QNB, das harte Vorgehen der Regierung gegen Oppositionelle und Journalisten kritisiert (REU 20.2.2025). Drei Monate später wurde die Ausreisesperre aufgehoben. Das Verfahren lief hingegen weiter, wobei der Staatsanwalt bis zu fünf Jahren Haft forderte (HDN 20.5.2025; vgl. Bianet 22.5.2025). Das Recht zur Ausreise wiederum darf durch eine richterliche Entscheidung im Rahmen einer strafrechtlichen Ermittlung oder Verfolgung eingeschränkt werden. Die Strafrichter machen von den Einschränkungsmöglichkeiten großzügig Gebrauch. Es ist gang und gäbe, dass insbeson dere Personen mit Auslandsbezug, welche sich nicht in Untersuchungshaft befinden, mit einer parallel zum Ermittlungsverfahren unter Umständen mehrere Jahre dauernden Ausreisesperre belegt werden. Hunderte EU-Bürger, darunter viele Österreicher, sind von dieser Maßnahme ebenso betroffen wie Tausende türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in einem EU-Mitglied staat. Umgekehrt wird über nicht türkische Staatsangehörige, die mit der türkischen Strafjustiz in Kontakt gekommen sind oder deren Aktivitäten außerhalb der Türkei als negativ wahrgenommen wurden, eine Einreisesperre verhängt (ÖB Ankara 4.2025, S. 14f.). Das deutsche Auswärtige Amt, antwortend auf eine parlamentarische Anfrage, gab im Juni 2022 an, dass 104 Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit an der Ausreise gehindert wurden. 55 hätten sich wegen „Terror“-Vorwürfen in Haft befunden, und gegen 49 weitere wäre eine Ausreisesperre verhängt worden (FR 11.6.2022). Mindestens 65 deutsche Staatsbürger konnten mit Stand November 2023 die Türkei aufgrund von Ausreisesperren nicht verlassen, die Hälfte wegen Terrorvorwürfen (Zeit Online 16.11.2023). Mitunter wird ein Ausreiseverbot ausgesprochen, ohne dass die betreffende Person davon weiß. In diesem Fall erfährt sie es erst bei der Passkontrolle zum Zeitpunkt der Ausreise, woraufhin höchstwahrscheinlich ein Verhör folgt. So wie z. B. Strafverfahren und Strafen werden auch Aus reiseverbote im sog. Allgemeinen Informationssammlungssystem (Genel Bilgi Toplama Sistemi - GBT) erfasst. Die Justizbehörden und der Sicherheitsapparat, einschließlich Polizei und Gen darmerie, haben Zugriff auf das GBT. Wenn ein Zollbeamter am Flughafen die Identitätsnummer der betreffenden Person in das GBT eingibt, wird ersichtlich, dass das Gericht ein Ausreiseverbot verhängt hat. Unklar ist hingegen, ob ein Ausreiseverbot auch im sog. Nationalen Justizinforma tionssystem (Ulusal Yargi Ağı Bilişim Sistemi - UYAP) und im e-Devlet (e-Government-Portal) 314
