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Dieses Dokument ist Teil der Anfrage „Länderinformationsblätter“
vgl. Amwaj 9.4.2024). Seit Dezember 2023 hat sie ihre Angriffe intensiviert (ISW 10.3.2025; vgl. Standard 4.4.2024). Auch 2025 führte sie mehrere Angriffe auf Sicherheitskräfte in Sistan und Belutschistan durch, bzw. kam es zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräf ten und Jaish al-Adl (ACLED 20.6.2025). Die Renaissance der Gruppierung wird u. a. mit dem „ Blutfreitag“ in Zusammenhang gebracht, bei dem am 30.9.2022 über 90 Menschen im Zuge der Anti-Regime-Proteste von den Sicher heitskräften [in Zahedan, der Hauptstadt von Sistan und Belutschistan] getötet worden sind (Zenith 26.1.2024; vgl. ISW 4.4.2024). Die ursprünglich anti-schiitische Ausrichtung von Ja ish al-Adl ist inzwischen einer Feindschaft gegenüber der Islamischen Republik Iran gewichen. Insbesondere nach dem Aufstieg des sogenannten Islamischen Staates (IS) hat die Gruppe ihre konfessionalistische Rhetorik zurückgefahren. In Reaktion auf die Protestbewegung seit Herbst 2022 positioniert sich Jaish al-Adl stattdessen als Fürsprecher für die Gleichberechti gung aller ethnischen Gruppen in Iran (Zenith 26.1.2024). Nach einem Großangriff Anfang April 2024 nannte die Gruppierung außerdem eine iranische Zusammenarbeit mit China, Indien und Russland als weiteren Grund. Jaish al-Adl versucht, Bauvorhaben an der Küste in der Region zu verhindern (ISW 4.4.2024). Das Regime verfolgt (vermeintlich und tatsächlich) militante, separatistische Gruppierungen, wie die Jundallah (AA 15.7.2024). Jaish al-Adl wird von den iranischen Behörden als Terrororgani sation geführt und iranische Regierungsvertreter bezeichnen die Gruppierung oftmals als Jaish al-Zulm (Armee der Ungerechtigkeit) oder „Takfir-Terroristen“ (IRINTL 21.1.2024). Die iranischen Sicherheitsbehörden führen Operationen gegen die Gruppierung durch (ISW 18.4.2025, ISW 10.3.2025, ISW 25.2.2025). Im Jänner 2024 griffen iranische Sicherheitskräfte auch mit Raketen angebliche Hochburgen von Jaish al-Adl in Pakistan an. Pakistan reagierte seinerseits mit der Bombardierung von angeblichen Stellungen einer pakistanischen belutschischen Organisation im iranischen Sistan und Belutschistan (AJ 18.6.2025; vgl. JF 9.7.2024). Die beiden Länder beschuldigen sich seit Jahrzehnten gegenseitig, militante, regierungsfeindliche Gruppierungen der jeweils anderen Seite zu unterstützen. Ende 2024 wurde allerdings berichtet, dass die bei den Länder ihre Kooperation im Kampf gegen die gestiegene Anzahl an Anschlägen ausweiten wollen (RFE/RL 3.12.2024). Zu den in Iran verbotenen Parteien zählt auch das Free Balochistan Movement (FBM), das die Vereinigung des belutschischen Volkes in Iran, Pakistan und Afghanistan zum Ziel hat (IPS 3.11.2023) und unter anderem in Europa aktiv ist (India TV 20.8.2023; vgl. Mendes/JIPA 31.8.2020). Auch Personen, die sich für den Erhalt der sprachlichen oder kulturellen Identität einsetzen, werden oft als Separatisten verfolgt und teils zu langen Haftstrafen verurteilt (AA 15.7.2024). Quellen ■ AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (15.7.2024): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran (Stand: 03. April 2024), https://www.ecoi.net/en/file/local/211 2796/Auswärtiges_Amt,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Islami schen_Republik_Iran,_15.07.2024.pdf, Zugriff 25.7.2024 37

■ ACLED - Armed Conflict Location and Event Data (20.6.2025): ACLED Data [Stand 20.6.2025], https://acleddata.com/data-export-tool/, Zugriff 27.6.2025 ■ AJ - Al Jazeera (18.6.2025): Iran-Israel conflict raises alarm in Pakistan amid fears over own security, https://www.aljazeera.com/news/2025/6/18/iran-israel-conflict-raises-alarm-in-pakistan-amid-fears -over-own-security , Zugriff 27.6.2025 ■ Amwaj - Amwaj Media (9.4.2024): Deadly separatist attack puts spotlight on Iran-Pakistan border, https://amwaj.media/media-monitor/deadly-separatist-attack-puts-spotlight-on-iran-pakistan-borde r, Zugriff 24.5.2024 ■ CNN - Cable News Network (18.1.2024): Pakistan carries out military strikes on separatist targets in Iran following deadly attack on its own soil by Tehran, https://edition.cnn.com/2024/01/18/middlee ast/pakistan-targets-locations-iran-intl-hnk/index.html , Zugriff 18.1.2024 ■ India TV - India TV (20.8.2023): Free Balochistan Movement holds protest outside Chinese Embassy in London, Berlin over ’Baloch genocide’, https://www.indiatvnews.com/news/world/free-balochistan -movement-protest-outside-chinese-embassy-london-berlin-pakistan-china-iran-latest-updates-2 023-08-20-887822 , Zugriff 17.1.2024 ■ IPS - Inter Press Service (3.11.2023): Iran, a Murdered Teenager and a Fading Protest, https: //www.ipsnews.net/2023/11/iran-murdered-teenager-fading-protest/?utm_source=rss&utm_mediu m=rss&utm_campaign=iran-murdered-teenager-fading-protest , Zugriff 17.1.2024 ■ IRINTL - Iran International (21.1.2024): Sunni Militants Continue To Create Tension Between Iran, Pakistan, https://www.iranintl.com/en/202401217257, Zugriff 23.5.2024 ■ ISW - Institute for the Study of War (18.4.2025): Iran Update, April 18, 2025, https://www.understa ndingwar.org/backgrounder/iran-update-april-18-2025 , Zugriff 27.6.2025 ■ ISW - Institute for the Study of War (10.3.2025): Iran Update, 10 March, 2025, https://www.understa ndingwar.org/backgrounder/iran-update-march-10-2025 , Zugriff 27.6.2025 ■ ISW - Institute for the Study of War (25.2.2025): Iran Update, February 25, 2025, https://www.unde rstandingwar.org/backgrounder/iran-update-february-25-2025 , Zugriff 27.6.2025 ■ ISW - Institute for the Study of War (4.4.2024): Iran Update, April 4, 2024, https://www.understandin gwar.org/backgrounder/iran-update-april-4-2024 , Zugriff 23.5.2024 ■ JF - Jamestown Foundation, The (9.7.2024): Grievances Provoke Surge in Baloch Separatist Milit ancy on Both Sides of Pakistan–Iran Border, https://jamestown.org/program/grievances-provoke-s urge-in-baloch-separatist-militancy-on-both-sides-of-pakistan-iran-border/ , Zugriff 27.6.2025 ■ Mendes/JIPA - Mendez, Zeus Hans (Autor), Journal of Indo-Pacific Affairs (Herausgeber) (31.8.2020): Repression and Revolt in Balochistan, https://media.defense.gov/2020/Aug/31/2002488092/-1/-1/1 /MENDEZ.PDF, Zugriff 17.1.2024 ■ NCTC - National Counterterrorism Center, The (10.2022): Jaysh al-Adl (formerly Jundallah), https: //www.dni.gov/nctc/ftos/jaa_fto.html, Zugriff 15.3.2023 ■ Qantara - Qantara.de (23.1.2024): Worum geht es beim Konflikt in Belutschistan?, https://qantara. de/artikel/spannungen-zwischen-iran-und-pakistan-worum-geht-es-beim-konflikt-belutschistan , Zugriff 23.5.2024 ■ RFE/RL - Radio Free Europe/Radio Liberty (3.12.2024): After Decades Of Mistrust, Iran And Pakistan Join Forces Against Militancy, https://www.rferl.org/a/pakistan-iran-baluch-bla-balochistan-sistan/ 33216802.html, Zugriff 27.6.2025 ■ Standard - Standard, Der (4.4.2024): Zahlreiche Tote nach Angriff militanter Gruppe auf Revolu tionsgarden im Iran, https://www.derstandard.at/story/3000000214554/zahlreiche-tote-nach-schwe ren-gefechten-im-iran , Zugriff 23.5.2024 ■ USIP - United States Institute of Peace [USA] (9.3.2023): Iran’s Dissident Sunni Leader, https: //web.archive.org/web/20241104051416/https:/iranprimer.usip.org/blog/2023/mar/09/iran’s-disside nt-sunni-leader, Zugriff 15.3.2023 ■ Zenith - Zenith (26.1.2024): Das steckt hinter „ Jaisch Al-Adl“, https://magazin.zenith.me/de/politik/m ilizen-belutschistan-zwischen-iran-und-pakistan , Zugriff 23.5.2024 5 Rechtsschutz / Justizwesen Letzte Änderung 2025-07-16 08:01 Das Recht ist in allen Rechtsbereichen umfassend kodifiziert, so etwa das Zivilrecht, das Famili en- und Erbrecht oder das Strafrecht. Die iranischen Gerichte müssen auf der Grundlage dieser 38

Gesetze Recht sprechen. Die Bindung der Rechtsprechung an das Gesetz ist somit formal gewahrt (LTO 26.10.2022). Der Grundsatz der Rechtmäßigkeit ist zwar durch die Verfassung geschützt, aber mit einem Vorbehalt versehen. In Artikel 167 der Verfassung, einem der um strittensten Artikel, heißt es, dass die Richter verpflichtet sind, sich zu bemühen, jeden Fall auf der Grundlage des kodifizierten Rechts zu entscheiden (Islamic Law Blog 22.11.2015). Im Falle des Fehlens, der Unzulänglichkeit, der Kürze oder der Widersprüchlichkeit der Gesetze müssen die Richter den Fall jedoch auf der Grundlage der maßgeblichen islamischen Quellen und der authentischen Fatwas (fatāwā) entscheiden, um zu verhindern, dass ein Fall unentschieden bleibt (Islamic Law Blog 22.11.2015; vgl. USDOS 23.4.2024). Art. 57 der Verfassung verleiht dem Revolutionsführer weitreichende Aufsichtsbefugnisse über das Justizwesen (BS 19.3.2024). Er ernennt für jeweils fünf Jahre den Chef der Judikative (FH 2025; vgl. AA 15.7.2024), der wiederum für die Ernennung und Entlassung der Gerichtsleiter (Soltani/Shooshinasab 8.2022) und von Richtern zuständig ist (BS 19.3.2024). Die ebenfalls in der Verfassung festgeschriebene Unabhängigkeit der Gerichte (AA 15.7.2024) und das Ge bot der Gewaltenteilung sind in der Praxis somit stark eingeschränkt (AA 15.7.2024; vgl. BS 19.3.2024). Während die Gerichte innerhalb des herrschenden Establishments ein gewisses Maß an Au tonomie genießen, wird das Justizsystem regelmäßig als Instrument eingesetzt, um Regime kritiker und Oppositionelle zum Schweigen zu bringen (FH 2025). Der Sicherheitsapparat (AA 15.7.2024) - insbesondere die Revolutionsgarden und ihr Nachrichtendienst (BS 19.3.2024) - nehmen v. a. in politischen Fällen massiven Einfluss auf Urteilsfindung und Strafzumessung (AA 15.7.2024; vgl. BS 19.3.2024). Das Justizwesen ist geprägt von Korruption. Nach belast baren Aussagen von Rechtsanwälten sind Richter teilweise bei entsprechender Gegenleistung zu Entgegenkommen bereit (AA 15.7.2024). Die Behörden verletzen routinemäßig grundlegende Verfahrensstandards, insbesondere in poli tisch heiklen Fällen (FH 2025) und vor Revolutionsgerichten (HRW 16.1.2025). Aktivisten werden ohne Haftbefehl verhaftet, auf unbestimmte Zeit ohne förmliche Anklage festgehalten und ihnen wird der Zugang zu einem Rechtsbeistand oder jeglicher Kontakt zur Außenwelt verweigert (FH 2025). Insbesondere in der Untersuchungsphase von Verfahren schränken die Behörden das Recht von Verhafteten auf Zugang zu einem Rechtsbeistand regelmäßig ein (HRW 16.1.2025; vgl. AI 29.4.2025). Der Zugang von Verteidigern zu staatlichem Beweismaterial wird häufig eingeschränkt oder verwehrt. Die Unschuldsvermutung wird - insbesondere bei politisch aufge ladenen Verfahren - nicht beachtet. Zeugen werden durch Drohungen zu belastenden Aussagen gezwungen. Folter und psychischer Druck sind übliche Mittel, um in politischen Fällen Geständ nisse zu erzwingen. Erzwungene Geständnisse werden in besonders prominenten Fällen im Staatsfernsehen ausgestrahlt. Auch Isolationshaft wird genutzt, um politische Gefangene psy chisch unter Druck zu setzen (AA 15.7.2024). Viele werden später in Prozessen, die manchmal nur ein paar Minuten dauern, aufgrund vager Sicherheitsvorwürfe verurteilt (FH 2025), wobei zu den Prozessen „ Geständnisse“ als Beweise zugelassen werden, die unter Folter erpresst worden sind (HRW 16.1.2025; vgl. AI 29.4.2025). 39

Rechtsschutz ist nur eingeschränkt gegeben (AA 15.7.2024). Es gibt Fälle von Rechtsanwälten, welche Dissidenten vertraten und daraufhin inhaftiert und mit einem Berufsverbot belegt worden sind, oder dazu gezwungen wurden, das Land zu verlassen, um einer Strafverfolgung zu entge hen (FH 2025). Anwälte, die politische Fälle übernehmen, werden systematisch eingeschüchtert oder an der Übernahme der Mandate gehindert (AA 15.7.2024). Eine Rechtsanwältin, die in der Vergangenheit Angeklagte in politischen Fällen vor Revolutionsgerichten vertreten hat, berichte te unter anderem von permanenter Überwachung, sobald derartige Fälle übernommen werden. Auch drohen manchen Rechtsanwälten derzeit sehr lange Haftstrafen (MRAI 19.6.2023). Der Anwalt Amirsalar Davoudi, der u. a. politische Gefangene vertrat und öffentlich Missstände im Justizsystem anprangerte, wurde 2019 beispielsweise zu 30 Jahren Haft verurteilt (IHRNGO 1.12.2022), was auf andere Anwälte äußerst abschreckend wirkt (MRAI 19.6.2023). In Iran gibt es eine als unabhängige Organisation aufgestellte Rechtsanwaltskammer (Iranian Bar Association; IBA), deren Unabhängigkeit die Judikative einzuschränken versucht. Anwälte der IBA sind staatlichem Druck und Einschüchterungsmaßnahmen ausgesetzt (AA 15.7.2024). Um eine Anwaltslizenz zu erhalten, mussten Anwärter bislang unter anderem eine Prüfung bei der IBA ablegen (MBZ 9.2023; vgl. Soltani/Shooshinasab 8.2022). Im August 2023 verabschie dete das iranische Parlament ein Gesetz, das die Kontrolle zur Erteilung von Anwaltslizenzen an das Ministerium für Industrie, Bergbau und Handel übertrug (MBZ 9.2023). Fälle von Sippenhaft existieren, meistens in politischen Fällen, einschließlich mit Auslandsbezug; üblicher ist jedoch, dass Familienmitglieder unter Druck gesetzt werden, um im Sinne einer Unterlassung politischer Aktivitäten auf die Angeklagten einzuwirken (AA 15.7.2024). Quellen ■ AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (15.7.2024): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran (Stand: 03. April 2024), https://www.ecoi.net/en/file/local/211 2796/Auswärtiges_Amt,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Islami schen_Republik_Iran,_15.07.2024.pdf, Zugriff 25.7.2024 ■ AI - Amnesty International (29.4.2025): Iran: Human rights in Iran: Review of 2024/2025, https: //www.amnesty.org/en/documents/mde13/9275/2025/en/, Zugriff 21.5.2025 ■ BS - Bertelsmann Stiftung (19.3.2024): BTI 2024 Country Report Iran, https://www.ecoi.net/en/file/l ocal/2105885/country_report_2024_IRN.pdf, Zugriff 26.3.2024 ■ FH - Freedom House (2025): Freedom in the World 2025 - Iran, https://freedomhouse.org/country/i ran/freedom-world/2025, Zugriff 10.3.2025 ■ HRW - Human Rights Watch (16.1.2025): World Report 2025 - Iran, https://www.ecoi.net/de/doku ment/2120038.html, Zugriff 22.1.2025 ■ IHRNGO - Iran Human Rights (1.12.2022): Amirsalar Davoudi, https://iranhr.net/en/people/5530/ , Zugriff 28.11.2023 ■ Islamic Law Blog - Islamic Law Blog (22.11.2015): Between Law and Sharīʿa: Hudūd and the Principle of Legality (Part II), https://islamiclaw.blog/2015/11/22/between-law-and-shariʿa-hudud-and-the-pri nciple-of-legality-part-ii/ , Zugriff 15.12.2023 ■ LTO - Legal Tribune Online (26.10.2022): Ein Wächterrat voller Macht, https://www.lto.de/recht/hin tergruende/h/iran-staat-proteste-islam-rahbar-pflicht-frau-hejab/ , Zugriff 15.12.2023 ■ MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (9.2023): Algemeen ambtsbericht Iran, https://www.ecoi.net/en/file/local/2098089/Algemeen ambtsbericht Iran van september 2023.pdf, Zu griff 30.11.2023 ■ MRAI - Menschenrechtsanwältin aus Iran (19.6.2023): Interview, via Videotelefonie 40

■ Soltani/Shooshinasab - Soltani, Mohammad, Shooshinasab, Nafiseh (8.2022): UPDATE: An Over view of the Iranian Legal System, https://www.nyulawglobal.org/globalex/Iran_Legal_System_Rese arch1.html, Zugriff 15.12.2023 ■ USDOS - United States Department of State [USA] (23.4.2024): 2023 Country Report on Human Rights Practices: Iran, https://www.ecoi.net/de/dokument/2107731.html, Zugriff 3.5.2024 5.1 Gerichte Letzte Änderung 2025-07-17 12:30 Die iranische Justiz verwaltet ein vielschichtiges Gerichtssystem. Die Strafverfolgung geht von niedrigeren Gerichten aus und kann bei höheren Gerichten angefochten werden. Der Oberste Gerichtshof überprüft Fälle von Kapitalverbrechen und entscheidet über Todesurteile. Er hat auch die Aufgabe, für die ordnungsgemäße Anwendung der Gesetze und die Einheitlichkeit der Gerichtsverfahren zu sorgen (USIP 1.8.2015). Bestimmte Urteile können vor dem Obersten Gerichtshof angefochten werden (Soltani/Shooshinasab 8.2022; vgl. Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021). Anders als die Berufungsgerichte ist der Oberste Gerichtshof nicht befugt, ein neues Urteil zu fällen. Im Falle einer erfolgreichen Anfechtung verweist er den betroffenen Fall wieder an ein zuständiges Gericht zurück (Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021). Es gibt allgemeine und spezielle Gerichte. Die allgemeinen Gerichte haben die Rechtspre chungskompetenz in allen Fällen, die nicht im Kompetenzbereich der speziellen Gerichte liegen (Soltani/Shooshinasab 8.2022). Sie verteilen sich auf die kleineren Landkreise, Rayons und Bezirke des Landes (IRWIRE 9.9.2020). Seit 2001 gibt es darüber hinaus sogenannte Streitschlichtungsräte (shurāhā-I hal-e ikhtilāf) als alternative Konfliktlösungskörperschaften. Die Richter dieser Räte können in Abstimmung mit den Ratsmitgliedern in bestimmten Fragen in den Bereichen Finanzen, Miete, Erbschaft, Mitgift und Unterhalt sowie bestimmten ta’zir-Vergehen [s. Unterkap. Rechtsschutz / Justizwesen / Islamisches Strafgesetzbuch (IStGB), Strafzumessungspraxis f. Begriffserklärung] Fälle anhö ren und Urteile sprechen. Sie können aber z. B. keine Scheidungsfragen behandeln und sind auch nicht dazu befugt, Körper- oder Haftstrafen auszusprechen. Die Zuständigkeit der Streit beilegungsräte in den Dörfern beschränkt sich auf Friedens- und Kompromissentscheidungen (Soltani/Shooshinasab 8.2022). Die Zivilgerichte verhandeln über lokale materielle und immaterielle zivilrechtliche Streitigkeiten, die nicht in die Zuständigkeit der Streitschlichtungsräte fallen (Soltani/Shooshinasab 8.2022). Die Familiengerichte entscheiden unter anderem bei Ehe- und Scheidungsfragen, Obsorge [Anm.: jedoch nicht Vormundschaft] wie auch geschlechtsangleichenden Operationen. Die Urtei le werden von einem männlichen Richter gefällt, nachdem er eine beratende Richterin schriftlich konsultiert hat (Soltani/Shooshinasab 8.2022). Die Strafgerichte unterteilen sich in verschiedene Untereinheiten (IRWIRE 9.9.2020). Neben den Strafgerichten 1 und 2 gibt es die Revolutionsgerichte, Jugendgerichte und Militärgerichte (Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021; vgl. Soltani/Shooshinasab 8.2022). Darüber hinaus gibt es mehrere Sondergerichte (IRWIRE 9.9.2020), darunter beispielsweise ein Sondergericht für die 41

Geistlichkeit (dadgah-e vīzheh-ye rouhaniyat), das als einziges Gericht nicht dem Justizchef, sondern direkt dem Revolutionsführer untersteht (Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021). Es wird u. a. dazu genutzt, um prominente Kleriker, welche Kritik am Regime äußern, strafrechtlich zu verfolgen (IRWIRE 9.9.2020; vgl. USIP 1.8.2015). Das Gesetz ermöglicht auch die Einsetzung eines zuständigen Gerichts zur Behandlung von Verstößen gegen das Pressegesetz von 1986 - das sogenannte Pressegericht (Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021). Revolutionsgerichte Die Revolutionsgerichte haben verschiedene Zweige in der Hauptstadt, in den Provinzen und in manchen Justizdistrikten (Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021). Die Verfassung sieht weder ihre Einrichtung noch ein Mandat für die Revolutionsgerichte vor. Sie wurden ursprünglich nach der Revolution von 1979 geschaffen, um hochrangige Beamte der abgesetzten Monarchie vor Ge richt zu stellen, und wurden später institutionalisiert. Sie arbeiten weiterhin parallel zum restlichen Strafjustizsystem (USDOS 23.4.2024) und sind stark von den Sicherheitsbehörden beeinflusst (MRAI 19.6.2023) bzw. gehen manche Quellen davon aus, dass die Revolutionsgerichte in Zu sammenarbeit mit den Revolutionsgarden und dem Geheimdienstministerium (MOIS) operieren (Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021). Die Revolutionsgerichte unterscheiden sich bezüglich der Angelegenheiten, welche sie behan deln, von anderen Gerichten. Sie befassen sich in erster Linie mit Straftaten im Zusammenhang mit der nationalen Sicherheit, was im Grunde alle politischen und sozialen Aktivitäten von Dis sidenten und Menschenrechtsaktivisten einschließt (MRAI 19.6.2023). Nach Art. 303 der IStPO fallen die folgenden Delikte unter die Zuständigkeit der Revolutionsgerichte (FIDH 9.2023): • Alle Verbrechen gegen die nationale und internationale Sicherheit, mohārebeh (Waffenauf nahme gegen Gott und Staat) oder baghei (bewaffneter Aufstand gegen die Regierung) (Soltani/Shooshinasab 8.2022; vgl. IRWIRE 9.9.2020) und efsād fe-l-arz [Korruption auf Erden] - jeweils definiert und kriminalisiert in den Artikeln 279 bis 285 und 286 bis 288 des islamischen Strafgesetzbuchs von 2013 (IStGB) (Soltani/Shooshinasab 8.2022), Rebellion, geheime Absprachen und Versammlungen gegen die Islamische Republik Iran oder bewaff nete Aktionen, Brandanschläge, Zerstörung und Verschwendung von Eigentum, um sich gegen das Regime zu stellen (Soltani/Shooshinasab 8.2022; vgl. JIS 8.9.2018); • Spionage gegen das Regime (JIS 8.9.2018), Spionage im Auftrag von Ausländern (Art. 502 IStGB) (FIDH 9.2023); • Beleidigung des Gründers der Islamischen Republik Iran und des Obersten Führers (Art. 514) (FIDH 9.2023; vgl. JIS 8.9.2018); • Alle Straftaten im Zusammenhang mit Drogen, psychotropen Stoffen und deren Vorläu fersubstanzen sowie dem Schmuggel von Waffen, Munition und anderen einschlägigen Gegenständen (Soltani/Shooshinasab 8.2022; vgl. JIS 8.9.2018); 42

• Andere Fälle, für die laut Gesetz das Revolutionsgericht zuständig ist (Soltani/Shooshinasab 8.2022): z. B. in Art. 49 der Verfassung erwähnte Delikte wie Bestechung, Korruption, Unter schlagung öffentlicher Mittel und Verschwendung von Volksvermögen (JIS 8.9.2018; vgl. Sol tani/Shooshinasab 8.2022). Während es an allen iranischen Gerichten bestimmte Probleme gibt, sind die Revolutionsge richte besonders dafür berüchtigt, selbst die grundlegendsten Rechte nicht einzuhalten (MRAI 19.6.2023). Laut Menschenrechtsgruppen und internationalen Beobachtern werden vor Revo lutionsgerichten, die im Allgemeinen die Fälle politischer Gefangener anhören, routinemäßig grob unfaire Gerichtsprozesse ohne ordnungsgemäße Verfahren abgehalten; es werden vor ab festgelegte Urteile verkündet und Hinrichtungen für politische Zwecke befürwortet. Diese unlauteren Praktiken treten Berichten zufolge in allen Phasen der Strafverfahren vor den Revo lutionsgerichten auf (USDOS 23.4.2024). Anwälte benötigen vor Revolutionsgerichten in der Regel schon alleine dafür eine Erlaubnis der Richter, um den Gerichtssaal betreten zu können. Anwälten von Personen, die in der Vergangen heit wegen mohārebeh angeklagt waren, wurde manchmal die Teilnahme am Prozess verweigert. In anderen sicherheitsrelevanten Fällen durften sie teilnehmen, aber ihr Recht auf eine ange messene Verteidigung wurde eingeschränkt (Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021). Eine Novelle der Strafprozessordnung im Jahr 2015 höhlte die ohnehin begrenzten Beschuldigtenrechte bei Prozessen wegen Vergehen gegen die nationale Sicherheit weiter aus. Den Beschuldigten und ihren Anwälten wurde mit der Novelle beispielsweise das Recht auf eine Kopie der Gerichts akten verweigert (MRAI 19.6.2023) und Angeklagte dürfen zumindest im Anfangsstadium des Verfahrens (AA 15.7.2024) - dem Untersuchungsstadium (MRAI 19.6.2023) - nur aus einer Liste mit vom Staat zugelassenen und damit mutmaßlich systemfreundlichen Anwälten auswählen (AA 15.7.2024; vgl. MRAI 19.6.2023). In dieser bedeutsamen Prozessphase werden oftmals sensible Informationen aufgedeckt, diese Einschränkung der Auswahl gibt Anlass zur Sorge über die Fairness und Transparenz der Prozesse (MRAI 19.6.2023). Quellen ■ AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (15.7.2024): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran (Stand: 03. April 2024), https://www.ecoi.net/en/file/local/211 2796/Auswärtiges_Amt,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Islami schen_Republik_Iran,_15.07.2024.pdf, Zugriff 25.7.2024 ■ FIDH - International Federation for Human Rights (9.2023): The Iran Notes, https://www.fidh.org/I MG/pdf/iran_notes_-_1_-_judiciary_-_september_2023.pdf , Zugriff 3.5.2024 ■ IRWIRE - IranWire (9.9.2020): Injustice Behind Closed Doors: Iran’s Special and Revolutionary Courts, https://iranwire.com/en/features/67558/, Zugriff 30.3.2023 ■ JIS - Journal for Iranian Studies (8.9.2018): THE REVOLUTIONARY COURTS IN IRAN: LEGALITY AND POLITICAL MANIPULATION, https://rasanah-iiis.org/english/wp-content/uploads/sites/2/2020/ 02/THE-REVOLUTIONARY-COURTS-IN-IRAN.pdf , Zugriff 30.3.2023 ■ Landinfo/CEDOCA/SEM - Referat für Länderinformationen der Einwanderungsbehörde [Norwegen], Center for Documentation and Research of the Office of the Commissioner General for Refugees and Stateless Persons [Belgien], Staatssekretariat für Migration [Schweiz] (12.2021): IRAN Criminal procedures and documents, https://www.ecoi.net/en/file/local/2064888/joint_coi_report._criminal_pr ocedures_and_documents_20211206.pdf, Zugriff 17.3.2023 ■ MRAI - Menschenrechtsanwältin aus Iran (19.6.2023): Interview, via Videotelefonie 43

■ Soltani/Shooshinasab - Soltani, Mohammad, Shooshinasab, Nafiseh (8.2022): UPDATE: An Over view of the Iranian Legal System, https://www.nyulawglobal.org/globalex/Iran_Legal_System_Rese arch1.html, Zugriff 15.12.2023 ■ USDOS - United States Department of State [USA] (23.4.2024): 2023 Country Report on Human Rights Practices: Iran, https://www.ecoi.net/de/dokument/2107731.html, Zugriff 3.5.2024 ■ USIP - United States Institute of Peace [USA] (1.8.2015): The Islamic Judiciary, https://iranprimer.u sip.org/resource/islamic-judiciary, Zugriff 30.3.2023 5.2 Islamisches Strafgesetzbuch (IStGB), Strafzumessungspraxis Letzte Änderung 2025-07-16 08:20 Die iranische Justiz ist insofern ein einzigartiges System, als sie islamische Prinzipien und eine vom französischen System inspirierte Gesamtstruktur kombiniert. Nach der islamischen Revolution wurde das Justizsystem stark verändert, um die Scharia einzubeziehen. Das neue System wurde jedoch auf einer bereits bestehenden säkularen Struktur aufgebaut, wodurch ein sehr komplexes Justizwesen entstanden ist (Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021). Mit der islamischen Revolution von 1979 kam es zur Wiedereinführung des islamischen Straf rechts, das die bisherige, vom „ code pénal napoléon“ von 1810 beeinflusste Gesetzgebung ablöste (BAMF 5.2021). Die Schwere und Art einer Straftat sowie die vorgeschriebene Strafe bestimmen, welches Gericht für die Entscheidung eines Falles zuständig ist. Art. 14 des Isla mischen Strafgesetzbuches (IStGB) unterteilt Verbrechen in vier Strafkategorien gemäß der Scharia: hadd, qisas, diyah und ta’zīr (Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021). Hadd-Delikte umfassen Unzucht/Ehebruch (zina), Sodomie (levat), lesbische Beziehung (mo saheqeh), Beschaffung von Prostitution (qavadī), falsche Anschuldigung der Unzucht/Sodomie (qazf), Verleumdung des Propheten (sabb-e nabī), Alkoholkonsum (shorb-e khamr), Raub/Dieb stahl, Waffennahme gegen Gott (mohārebeh ba khoda), Korruption auf Erden (mofsad/efsad fe-l-arz) und Rebellion (baghei). Zu den hadd-Strafen gehören die Todesstrafe, auch in Form von Steinigung oder Kreuzigung, Auspeitschung, Amputation (von Hand und Fuß), lebenslange Haft und Verbannung. Art und Umfang dieser Strafen werden vom islamischen Recht bestimmt und gelten als von Gott festgelegt, sie können daher von einem Richter nicht abgeändert oder die Verurteilten begnadigt werden (Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021). Iranische Aktivisten und Dissidenten, darunter Angehörige ethnischer und religiöser Minder heiten, werden normalerweise mit vage formulierten und weit gefassten Anklagen konfrontiert, die aus dem IStGB stammen. Die hadd-Verbrechen „ Waffennahme gegen Gott“ (mohārebeh) und „ Korruption auf Erden“ (efsād fe-l-arz) sind dabei die berüchtigtsten (Landinfo/CEDOCA/ SEM 12.2021). Manche Interpretationen von „ Waffennahme gegen Gott“ (mohārebeh) schlie ßen selbst Messer als Waffen ein. Es kann daher passieren, dass Personen des mohārebeh beschuldigt werden, weil sie ein Messer bei sich trugen. Dieser Straftatbestand wird insbeson dere gegen Minderheitengruppen wie Mitglieder der kurdischen Gemeinschaft verwendet, wenn ihnen Verbindungen zu militanten Gruppierungen vorgeworfen werden. Mofsad/efsad fe-l-arz („ Korruption auf Erden“) ist dagegen eine völlig andere Kategorie. Die Definition dieses Begriffs obliegt dem jeweiligen Richter. Dies kann sexuelle Vergehen ebenso einschließen, wie Wirt schaftskriminalität, wenn die Handlung als so schwerwiegend interpretiert wird, dass sie eine 44

ernsthafte Bedrohung für die Gesellschaft darstellt (MRAI 19.6.2023). Hadd-Strafen werden im zweiten Buch des IStGB (Art. 217–288) behandelt (BAMF 5.2021). Qisas-Vebrechen sind sogenannte Talions- oder Vergeltungsstrafen (Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021; vgl. BAMF 5.2021). Sie basieren auf einem Prinzip des islamischen Rechts, den Opfern eine analoge Vergeltung für Gewaltverbrechen wie Totschlag oder Körperverletzung zu erlauben - unter der Voraussetzung, dass die Taten vorsätzlich waren. Angehörige eines Tötungsopfers (nächste Familienangehörige) und Opfer von Körperverletzung können anstelle von Vergeltung auch Geldentschädigung (diyah oder Blutgeld) fordern und die Freilassung des Täters veran lassen. Sie können dem Täter auch ganz vergeben und auf diyah verzichten. Das iranische Rechtssystem betrachtet diese Verbrechen als Angelegenheit zwischen Privatpersonen. Die Rolle des Staates besteht darin, die Ermittlungen und Gerichtsverfahren in diesen Fällen zu erleichtern und sicherzustellen, dass nachfolgende Bestrafungen in organisierter Form erfolgen. Doch selbst wenn die Bluträcher auf ihren Anspruch auf Vergeltung verzichten, kann der Staat eine zusätzliche Strafe verhängen, wenn er der Ansicht ist, dass das Verbrechen die öffentliche Ordnung und die Sicherheit der Gesellschaft stört (Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021). In Fällen von Körperverletzung ist Vergeltung selten. Auch bei Mord ist es für die Angehörigen oftmals attraktiver, diyah anzunehmen. Bei nicht vorsätzlicher Körperverletzung oder Totschlag ist diyah dagegen grundsätzlich vorgesehen (und nicht nur als Alternative zu Vergeltung, so die Opfer oder ihre Angehörigen zustimmen). Diyah wird weiters auch in manchen Fällen der vorsätzlichen Körperverletzung angewendet, in denen Vergeltung verboten oder undurchführbar ist (Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021). Qisas-Strafen werden im dritten Buch (Art. 289–447) und das Blutgeld bzw. diyah im vierten Buch (Art. 448–728) des IStGB behandelt (BAMF 5.2021). Für alle sonstigen aus Sicht der Rechtsordnung strafwürdigen Taten sind ta’zīr-Strafen (BAMF 5.2021; vgl Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021) - Ermessensstrafen - und sogenannte „Abschre ckungsstrafen“ (mojāzāt-e bāzdārandeh) vorgesehen. Letztere dienen der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Während hadd, qisas und diyah durch islamisches Recht definiert werden, leiten sich ta’zir- und Abschreckungsstrafen aus dem staatlichen Recht ab. In diese Kategorien fallen zum Beispiel Straftaten gegen die interne und externe Sicherheit des Staates (Art. 498- 512 und 610-611 IStGB); Fälschung (Art. 523-542 IStGB); Vergehen gegen öffentliche Moral und Anstand (Art. 637-641 IStGB) - beispielsweise ungehörige Beziehungen zwischen Männern und Frauen, wie z. B. Berührungen und Küsse (Art. 637) oder unislamische Kleidung (Art. 638); Diebstahl (Art. 651-667 IStGB); sowie öffentliche Konsumation von Alkohol, Glücksspiel und Vagabundieren (Art. 701-713 IStGB). Ta’zīr-Strafen werden nach Ermessen des Richters (auf der Grundlage des kodifizierten Rechts) verhängt (Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021). Aufgrund der Schwere von hadd-Strafen und der Tatsache, dass sie unveränderlich sind, gelten für sie strenge Beweis- und andere Anforderungen (Landinfo/CEDOCA/SEM 12.2021), wie zum Beispiel eine bestimmte Anzahl an Zeugen oder wiederholte Geständnisse. Darüber hinaus gibt es jedoch auch die Beweisregelung des „ richterlichen Wissens“ (‘elm-e qāzī) (Landinfo/ CEDOCA/SEM 12.2021; vgl. MRAI 19.6.2023), die in vielen hadd-Fällen angewandt wird (MRAI 19.6.2023) - wobei die NGO Iran Human Rights (IHRNGO) auch von einem Fall berichtete, bei 45

dem eine Verurteilung nach diesem Prinzip aufgrund eines qisas-Vergehens (Mord) erfolgte (IHRNGO 20.2.2025).‘elm-e qāzī bedeutet, dass der Richter auf Grundlage von Indizien ent scheiden muss, ob der Angeklagte schuldig ist oder nicht (MRAI 19.6.2023). Während das Gesetz vorschreibt, dass Urteile, die auf dem „ Wissen“ eines Richters beruhen, auf Beweisen oder Indizien fußen müssen und nicht nur auf der persönlichen Überzeugung des Richters, dass der Angeklagte der Straftat schuldig ist, hat IHRNGO Fälle einer willkürlichen Anwendung von ‘elm-e qāzī dokumentiert (IHRNGO 20.2.2025). Eine Strafrechtsnovelle im Jahr 2013 hat die Anwendung von ‘elm-e qāzī bei Ehebruchsfällen abgeschwächt. Bei Anklagen aufgrund der hadd-Tatbestände mohārebeh und mofsad/efsād fe-l-arz ist das „ richterliche Wissen“ immer noch einer der Hauptfaktoren zur Ermittlung der Schuld oder Unschuld eines Angeklagten (MRAI 19.6.2023). Eine weitere, aus der islamischen Rechtssprechung stammende, in Iran angewandte Möglichkeit zur Feststellung der Schuld eines Angeklagten, die bei qisas-Vergehen (Mord oder Körperver letzung) zur Anwendung kommen kann, wenn es keine ausreichenden Beweise gibt und ein Richter dennoch Zweifel an der Unschuld des Angeklagten hat, ist das Prinzip des qassameh oder „ geschworenen Eids“. Die Personen, die hierbei einen Eid schwören - eine bestimmte Anzahl an Angehörigen des Opfers - müssen dabei keine direkten Zeugen des Verbrechens gewesen sein (IHRNGO 20.2.2025). Strafverfolgungs- und Strafzumessungspraxis Bei Delikten, die im starken Widerspruch zu islamischen Grundsätzen stehen, können jederzeit Körperstrafen ausgesprochen und auch exekutiert werden (ÖB Teheran 11.2021). Im iranischen Strafrecht sind körperliche Strafen wie die Amputation von Fingern, Händen und Füßen oder das Erblinden (ein Auge oder beide) als Vergeltungsmaßnahme vorgesehen. Wie hoch die Zahl der durchgeführten Amputationen ist, kann nicht geschätzt werden, da wenig Berichte dazu an die Öffentlichkeit dringen (AA 15.7.2024). Es wird jedoch von der Durchführung von Amputationen berichtet (AI 29.4.2025; vgl. TST 10.6.2025). Für bestimmte Vergehen wie Alkoholgenuss, Miss achten des Fastengebots oder außerehelichem Geschlechtsverkehr sieht das Strafgesetzbuch Auspeitschung vor. Teilweise besteht die Möglichkeit, diese durch Geldzahlung abzuwenden (AA 15.7.2024). Auf die Anwendung der Vergeltungsstrafen (qisas) der Amputation (z. B. von Fingern bei Diebstahl) und der Blendung können Geschädigte gegen Erhalt eines Abstands geldes (diyah) verzichten. Derzeit ist bei Ehebruch noch die Strafe der Steinigung vorgesehen. Auch auf diese kann vom Geschädigten gegen diyah verzichtet werden. Im Jahr 2002 wurde ein Moratorium für die Verhängung der Steinigungsstrafe erlassen (ÖB Teheran 11.2021), seit 2010 wurde über keine Fälle von Steinigungen mehr berichtet (IHRNGO 20.2.2025). Verlässliche Aussagen zur Strafverfolgungs- und Strafzumessungspraxis sind nur eingeschränkt möglich, da diese sich durch Willkür auszeichnet. Mitunter bewusst unbestimmte Formulierun gen von Straftatbeständen und Rechtsfolgen sowie eine unzureichende Kontrolle innerhalb der Justiz ermöglichen ein willkürliches Handeln von Richtern. Zudem agieren Gerichte in po litischen Verfahren nicht unabhängig. Auch willkürliche Verhaftungen kommen häufig vor und führen dazu, dass Häftlinge teils monatelang ohne ein anhängiges Strafverfahren festgehalten 46
