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Dieses Dokument ist Teil der Anfrage „Länderinformationsblätter“
im Mai 2019 auf Vorfälle von übermäßiger Gewaltanwendung durch Beamte gegenüber Festge nommenen mit dem Ziel von Geständnissen oder als Strafe hin (die Berichte über den Besuch im Jänner 2021 und über den Ad-hoc-Besuch im September 2022 und Februar 2024 wurden auf Betreiben der Türkei bislang nicht veröffentlicht). Die Häufigkeit der Vorfälle liegt auf einem besorgniserregenden Niveau. Allerdings hat die Schwere der Misshandlungen durch Polizeibe amte abgenommen (ÖB Ankara 4.2025, S. 44). Hierzu äußerten sich im September 2022 die Experten des UN-Unterausschusses zur Verhütung von Folter (SPT) nach ihrem zweiten Besuch im Land. Demnach muss die Türkei weitere Maßnahmen ergreifen, um Häftlinge vor Folter und Misshandlung zu schützen, insbesondere in den ersten Stunden der Haft, und um Migranten in Abschiebezentren zu schützen (OHCHR 21.9.2022). In Bezug auf die Türkei zeigte sich 2024 auch die Parlamentarische Versammlung des Eu roparates (PACE) „ alarmiert über glaubwürdige Berichte, die darauf hindeuten, dass Folter und andere Formen der Misshandlung in […] der Türkei tendenziell systematisch und/oder weit verbreitet sind [und] besorgt über Berichte, die darauf hinweisen, dass trotz der ”Null-Toleranz“- Botschaft der Behörden die Anwendung von Folter und Misshandlung in Polizeigewahrsam und Gefängnis in den letzten Jahren zugenommen hat und die früheren Fortschritte der Türkei in diesem Bereich überschattet. Die Versammlung begrüßt die jüngsten Entscheidungen des Verfassungsgerichts, in denen Verstöße gegen das Verbot von Misshandlungen festgestellt und neue Untersuchungen von Beschwerden angeordnet wurden, und ermutigt andere nationale Gerichte, dieser Rechtsprechung zu folgen” [Anm.: Originalzitat englisch] (CoE-PACE 24.1.2024, S. 2). Ebenso äußerte sich das Anti-Folter-Komitee der Vereinten Nationen - CAT im Sommer 2024 „ […] besorgt über die Vorwürfe, dass Folter und Misshandlung im Vertragsstaat weiterhin in allgemeiner Form vorkommen, insbesondere in Haftanstalten, einschließlich der Vorwürfe von Schlägen und sexuellen Übergriffen und Belästigungen durch Strafverfolgungs- und Geheim dienstbeamte sowie des Einsatzes von Elektroschocks und Waterboarding in einigen Fällen“ [Anm.: Originalzitat englisch] (CAT 14.8.2024, S. 6). Trotz der Zusicherungen der Türkei bezüglich ihrer Null-Toleranz-Politik gegenüber Folter be kräftigte der UN-Menschenrechtsausschuss Ende November 2024 (im Rahmen des zwei ten periodischen Berichtes zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte - ICCPR) seine Besorgnis über die allgemeine Art und Weise, in der Folter und Misshandlung angeblich in Polizeigewahrsam und Gefängnissen stattfinden, sowie über die Zunahme von Folter- und Misshandlungsvorwürfen in den letzten Jahren (UNHRCOM 28.11.2024, S. 6). Straflosigkeit bzw. Strafmilderung bei staatlicher Gewalt Anstatt den Strafbestand der „ vorsätzliche Tötung und Folter“ anzuwenden, werden Sicherheits organe gerichtlich wegen „ vorsätzlicher Körperverletzung mit Todesfolge“ oder „ rücksichtsloser Tötung“ verurteilt, was mildere Strafen etwa in Form einer schnelleren Entlassung aus der Haft nach sich zieht. Zudem bestimmt das am 14.7.2016 erlassenen Gesetz Nr. 6722, dass Un tersuchung gegen Militärpersonal, welches an Einsätzen, welche Foltervorwürfe und andere Misshandlungen nach sich zogen, einem besonderen Genehmigungsverfahren unterworfen 98

sind. Und rückwirkend wurde eine Straflosigkeit eingeführt (İHD/HRA/TİHV/HRFT/TMA/TTB 26.6.2024, S. 11). Die letzten Jahre verzeichneten nicht nur einen Anstieg der Fälle von Folter und Misshandlun gen. Hinzukam das Fehlen einer Verurteilung durch höhere Amtsträger und die Bereitschaft, Anschuldigungen zu vertuschen, anstatt sie zu untersuchen. Dies führte zu einer weitverbreite ten Straffreiheit für die Sicherheitskräfte (SCF 6.1.2022). Dies ist überdies auf die Verletzung von Verfahrensgarantien, langen Haftzeiten und vorsätzlicher Fahrlässigkeit zurückzufüh ren, die auf verschiedenen Ebenen des Staates zur gängigen Praxis geworden sind (İHD/ HRA/OMCT/CİSST/TİHV/HRFT 9.12.2021). Betroffen sind sowohl Personen, welche wegen politischer als auch gewöhnlicher Straftaten angeklagt sind (HRW 13.1.2021). Allerdings sind Personen, denen eine Verbindung zur PKK oder zur Gülen-Bewegung nachgesagt wird, mit größerer Wahrscheinlichkeit Misshandlungen ausgesetzt. Ebenso sind laut Berichten Übergriffe in Polizeieinrichtungen in Teilen des Südostens häufiger als anderenorts (USDOS 22.4.2024, S. 4). Der UN-Menschenrechtsausschuss äußerte 2024 seine Besorgnis über das Fehlen einer angemessenen Überwachung von Polizeigewahrsam und Gefängnissen, eines sicheren und wirksamen Beschwerdemechanismus und unparteiischer, unabhängiger und gründlicher Ermitt lungen, Strafverfolgungen und Sanktionen, die der Schwere der Straftat für die Täter angemes sen sind, was zu einer Situation der faktischen Straflosigkeit führt (UNHRCOM 28.11.2024, S. 6; vgl. HRW 11.1.2024). In einer Entschließung vom 7.6.2022 wiederholte das Europäische Parlament (EP) „ seine Be sorgnis darüber, dass sich die Türkei weigert, die Empfehlungen des Europäischen Ausschusses zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe um zusetzen“ und „ fordert die Türkei auf, bei Folter eine Null-Toleranz-Politik walten zu lassen und anhaltenden und glaubwürdigen Berichten über Folter, Misshandlung und unmenschliche oder entwürdigende Behandlung in Gewahrsam, bei Verhören oder in Haft umfassend nachzugehen, um der Straflosigkeit ein Ende zu setzen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen“ (EP 7.6.2022, S. 19, Pt. 32). Es gab wenige Anhaltspunkte dafür, dass die Staatsanwaltschaft bei der Untersuchung der in den letzten Jahren vermehrt erhobenen Vorwürfe von Folter und Miss handlung in Polizeigewahrsam und Gefängnissen Fortschritte gemacht hätte (HRW 12.1.2023). Nur wenige derartige Vorwürfe führen zu einer strafrechtlichen Verfolgung der Sicherheitskräfte, und es herrscht nach wie vor eine weitverbreitete Kultur der Straflosigkeit (HRW 11.1.2024). Laut der Menschenrechtsstiftung der Türkei (TİHV) sollen zwischen 2018 und 2021 in der Türkei mindestens 13.965 Menschen unter Folter und Misshandlung festgenommen worden sein. Von diesen gewaltsamen Verhaftungen erfolgten 3.997 im Jahr 2018, 4.253 im Jahr 2019, 2.014 im Jahr 2020 und 3.701 im Jahr 2021 (Duvar 22.3.2022). 2022 berichtete der damalige Innenmi nister Süleyman Soylu infolge einer parlamentarischen Anfrage, dass lediglich zwölf von 2.594 Polizeioffizieren, welche in den vergangenen fünf Jahren verdächtigt wurden, exzessive Gewalt angewendet zu haben, in irgendeiner Weise bestraft wurden (TM 21.1.2022). Nach Angaben der Menschenrechtsvereinigung (İHD/HRA) wurden im Jahr 2023 insgesamt 5.312 Menschen 99

durch Sicherheitskräfte gefoltert oder misshandelt. 348 Fälle von Folter fanden in Polizeihaft und weitere 733 außerhalb von Hafteinrichtungen statt. 594 Fälle wurden aus den Gefängnissen gemeldet. 3.487 Personen wurden anlässlich von Protesten durch Sicherheitskräfte geschlagen und verwundet (BAMF 9.9.2024, S. 11; vgl. İHD/HRA 23.8.2024). Urteile der Höchstgerichte Das Verfassungsgericht urteilte 2021 mindestens in fünf Fällen zugunsten von Klägern, die von Folter und Misshandlungen betroffen waren (SCF 17.11.2021). In zwei Urteilen vom Mai 2021 stellte das Verfassungsgericht Verstöße gegen das Misshandlungsverbot fest und ordnete neue Ermittlungen hinsichtlich der Beschwerden an, die von der Staatsanwaltschaft zum Zeitpunkt ihrer Einreichung im Jahr 2016 abgewiesen worden waren (HRW 13.1.2022). Betroffen waren ein ehemaliger Lehrer, der im Gefängnis in der Provinz Antalya gefoltert wurde, sowie ein Mann, der in Polizeigewahrsam in der Provinz Afyon geschlagen und sexuell missbraucht wurde. Bei de wurden 2016 wegen vermeintlicher Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung verhaftet. Das Höchstgericht ordnete in beiden Fällen Schadenersatzzahlungen an (SCF 15.9.2021; vgl. SCF 22.9.2021). Ebenfalls im Sinne dreier Kläger (der Brüder Çelik und ihres Cousins), die 2016 von den bulgarischen an die türkischen Behörden ausgeliefert wurden, und welche Misshandlungen sowie die Verweigerung medizinischer Hilfe beklagten, entschied das Verfassungsgericht, dass die Staatsanwaltschaft die Anhörung von Gefängnisinsassen als Zeugen im Verfahren verab säumt hätte. Das Höchstgericht wies die Behörden an, eine Schadenersatzzahlung zu leisten und eine Untersuchung gegen die Täter einzuleiten (SCF 17.11.2021). Überdies wurde im Fall eines privaten Sicherheitsbediensteten, der am 5.6.2021 in Istanbul in Polizeigewahrsam starb, ein stellvertretender Polizeichef inhaftiert, der zusammen mit elf weiteren Polizeibeamten vor Gericht steht, nachdem die Medien Wochen zuvor Aufnahmen veröffentlicht hatten, auf denen zu sehen war, wie die Polizei den Wachmann schlug (HRW 13.1.2022). In einem Urteil vom 25.3.2025 stellte das Verfassungsgericht fest, dass die Behörden im Fall von Zabit Kişi, einem vermeintlichen Mitglied der Gülen-Bewegung, welcher 2017 aus Kasachstan entführt und in der Türkei geheim inhaftiert worden war, gegen die Verfahrensgarantien des Verbots der Misshand lung verstoßen hatten. Das Gericht entschied einstimmig, dass Kişi eine wirksame Untersuchung seiner Vorwürfe der rechtswidrigen Entführung, der verlängerten Isolationshaft und der schwe ren Folter verweigert wurde (NM 30.5.2025; vgl. TALI 4.6.2025). Die Entscheidung räumte zwar einen Verfahrensfehler ein, umging jedoch bewusst die Frage der tatsächlichen Folter. Trotz überwältigender Beweise, darunter übereinstimmende Zeugenaussagen und medizinische Un terlagen, entschied sich das Verfassungsgericht, die tatsächliche Folter nicht anzuerkennen, sondern lediglich das Versäumnis, sie zu untersuchen (TALI 4.6.2025). Im Oktober 2024 bestätigte das Kassationsgericht den Freispruch von 16 Männern, die in einem Verfahren gegen JİTEM, eine Spezialeinheit der Gendarmerie für Nachrichtenbeschaffung, in Ankara wegen „ vorsätzlicher Tötung im Rahmen von Handlungen einer bewaffneten Organi sation, die zur Begehung einer Straftat gegründet wurde“ angeklagt worden waren. Unter den Freigesprochenen befanden sich auch ehemalige Staatsbedienstete. Der Fall bezog sich auf Fälle des Verschwindenlassens und außergerichtliche Hinrichtungen zwischen 1993 und 1996 (AI 29.4.2025). 100

Institutionen Die Opfer von Misshandlungen oder Folter können sich zwar an formelle Beschwerdeverfahren wenden, doch sind diese Mechanismen nicht besonders wirksam. Dies gab Anlass zu Bedenken hinsichtlich der Autonomie staatlicher Stellen wie der Türkiye İnsan Hakları ve Eşitlik Kurumu (Menschenrechts- und Gleichstellungsbehörde der Türkei, TİHEK, engl. Abk.: HREI) und der Ombudsperson. So ist die TİHEK mehreren Quellen zufolge bei der Bearbeitung von Berichten über Misshandlungen und Folter weder effizient noch autonom (MBZ 31.8.2023, S. 40; vgl. CAT 14.8.2024, S. 3). Die TİHEK führt zwar offizielle Besuche in den Gefängnissen durch, doch geht es dabei in erster Linie um hygienische Fragen und nicht um Fälle von Misshandlung und Folter. Die Beamten auf den Polizeidienststellen zeigen häufig kein Interesse an der Bearbeitung von Beschwerden im Zusammenhang mit staatlich geförderter Gewalt. Die Opfer haben bessere Erfolgsaussichten, wenn sie ihre Beschwerden direkt bei der Staatsanwaltschaft einreichten, vor allem, wenn sie durch stichhaltige Beweise wie medizinische Berichte oder Videomaterial untermauert waren. Derselben Quelle des niederländischen Außenministeriums zufolge riskie ren Bürger, die Vorfälle staatlich geförderter Gewalt meldeten, wegen Verleumdung angeklagt zu werden (MBZ 31.8.2023, S. 40). Auch die Europäische Kommission stellte im Oktober 2024 fest, dass, obwohl mit der Rolle des Nationalen Präventionsmechanismus (NPM) betraut, die TİHEK/ HREI nicht die wichtigsten Anforderungen des Fakultativprotokolls zum UN-Überein kommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (OPCAT) erfüllt und Fälle, die an sie verwiesen wurden, nicht wirksam bearbeitet (EC 30.10.2024, S. 30; vgl. EC 8.11.2023, S. 31). Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen haben viele Opfer von Misshandlungen und Folter nicht nur wenig oder kein Vertrauen in die beiden genannten Institutionen, sondern es überwiegt die Angst, dass sie erneut Misshandlungen und Folter ausgesetzt werden, wenn die Gendarmen, Polizisten und/oder Gefängniswärter herausfinden, dass sie eine Beschwerde eingereicht haben. In Anbetracht dessen erstatten die meisten Opfer von Misshandlungen und Folter keine Anzeige (MBZ 18.3.2021, S. 34; vgl. MBZ 2.3.2022, S. 32f.). Kommt es dennoch zu Beschwerden von Gefangenen über Folter und Misshandlung stellen die Behörden keine Rechtsverletzungen fest, die Untersuchungen bleiben ergebnislos. Hierdurch hat die Motivation der Gefangenen, Rechtsmittel einzulegen, abgenommen, was wiederum zu einem Rückgang der Beschwerden geführt hat (CİSST 26.3.2021, S. 30). Quellen ■ AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (20.5.2024): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und ab schiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Januar 2024), https://www.ecoi.net/en/file /local/2110308/Auswärtiges_Amt,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_ der_Republik_Türkei,_20.05.2024.pdf, Zugriff 27.6.2024 [Login erforderlich] ■ AI - Amnesty International (29.4.2025): Amnesty Report 2024/25: Zur Lage der Menschenrechte weltweit; Türkei 2024, https://www.ecoi.net/de/dokument/2124776.html, Zugriff 20.5.2025 ■ BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (9.9.2024): Briefing Notes KW37 / 2024, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes /2024/briefingnotes-kw37-2024.pdf?__blob=publicationFile&v=4, Zugriff 25.9.2024 ■ CAT - UN Committee Against Torture (14.8.2024): Convention against Torture and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment, Concluding observations on the fifth periodic 101

report of Türkiye [CAT/C/TUR/CO/5], https://digitallibrary.un.org/record/4059747/files/CAT_C_TUR _CO_5-EN.pdf?ln=en, Zugriff 21.3.2025 ■ CİSST - Ceza İnfaz Sisteminde Sivil Toplum Derneği – Civil Society in the Penal System Association (26.3.2021): Annual Report 2019, https://web.archive.org/web/20220121120932/https:/cisst.org.tr/ en/wp-content/uploads/2020/11/cisst_2019_annual_report_rev08-1.pdf , Zugriff 24.6.2025 [Login erforderlich] ■ CoE-PACE - Council of Europe - Parliamentary Assembly (24.1.2024): Allegations of systemic torture and inhuman or degrading treatment or punishment in places of detention in Europe (Resolution 2528), https://pace.coe.int/pdf/b6e8895486c3627450be256da53a536ccbb4b25d62312ea0033f10f6f3ad54cb?title =Res. 2528.pdf, Zugriff 26.8.2024 [Login erforderlich] ■ Duvar - Duvar (22.3.2022): Over 13,000 people detained under torture in last four years in Turkey, https://www.duvarenglish.com/over-13000-people-detained-under-torture-in-last-four-years-in-tur key-news-60696, Zugriff 30.1.2024 ■ EC - Europäische Kommission (30.10.2024): Türkiye 2024 Report [SWD(2024) 696 final], ht tps://neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/document/download/8010c4db-6ef8-4c85-aa06- 814408921c89_en?filename=Türkiye Report 2024.pdf, Zugriff 5.11.2024 ■ EC - Europäische Kommission (8.11.2023): Türkiye 2023 Report [SWD (2023) 696 final], https:// neighbourhood-enlargement.ec.europa.eu/system/files/2023-11/SWD_2023_696 Türkiye report.pdf, Zugriff 9.11.2023 ■ EP - Europäisches Parlament (7.6.2022): Entschließung des Europäischen Parlaments vom 7. Juni 2022 zu dem Bericht 2021 der Kommission über die Türkei (2021/2250(ΙΝΙ)), https://www.europarl .europa.eu/doceo/document/TA-9-2022-0222_DE.pdf , Zugriff 12.9.2023 ■ HRW - Human Rights Watch (11.1.2024): World Report 2024 - Türkiye, https://www.ecoi.net/de/do kument/2103139.html, Zugriff 17.1.2024 ■ HRW - Human Rights Watch (12.1.2023): World Report 2023 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/do kument/2085506.html, Zugriff 14.11.2023 ■ HRW - Human Rights Watch (13.1.2022): World Report 2022 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/do kument/2066478.html, Zugriff 20.10.2023 ■ HRW - Human Rights Watch (13.1.2021): World Report 2021 - Turkey, https://www.ecoi.net/en/do cument/2043511.html, Zugriff 1.2.2024 ■ İHD/HRA - İnsan Hakları Derneği/Human Rights Association (23.8.2024): 2023 Yılı Hak İhlalleri Raporu İnsan Hakları Derneği [2023 Bericht über Rechtsverletzungen Menschenrechtsvereinigung], https://www.ihd.org.tr/wp-content/uploads/2024/08/2023-Yılı-Hak-İhlalleri-Bilançosu.pdf , Zugriff 20.9.2024 ■ İHD/HRA/OMCT/CİSST/TİHV/HRFT - İnsan Hakları Derneği/Human Rights Association, World Or ganisation Against Torture, Ceza İnfaz Sisteminde Sivil Toplum Derneği – Civil Society in the Penal System Association, Türkiye İnsan Hakları Vakfı / Human Rights Foundation Turkey (9.12.2021): Turkey: Five Years into visit by United Nations Special Rapporteur, torture remains widespread, https://www.omct.org/en/resources/statements/turkey-five-years-into-visit-by-united-nations-speci al-rapporteur-torture-remains-widespread , Zugriff 30.1.2024 ■ İHD/HRA/TİHV/HRFT/TMA/TTB - İnsan Hakları Derneği/Human Rights Association, Türkiye İnsan Hakları Vakfı / Human Rights Foundation Turkey, Turkish Medical Association/Türk Tabipleri Birliği (26.6.2024): Against the Global Humanitarian Crisis We Stand Against Torture Protecting Human Rights Values!, https://ihd.org.tr/en/wp-content/uploads/2024/07/js20240626_Torture.pdf , Zugriff 13.11.2024 ■ MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (2.2025a): Algemeen ambtsbericht Turkije, https://www.ecoi.net/de/dokument/2122226.html, Zugriff 13.3.2025 ■ MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (31.8.2023): General Country of Origin Information Report on Türkiye (August 2023), https://www.government.nl/binaries/government/ documenten/reports/2023/08/31/general-country-of-origin-information-report-on-turkiye-august- 2023/General COI report Turkiye (August 2023).pdf, Zugriff 13.11.2023 ■ MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (2.3.2022): General Country of Origin In formation Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2078792/general-country-of-origin-infor mation-report-turkey-march-2022.pdf , Zugriff 2.10.2023 ■ MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (18.3.2021): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.government.nl/binaries/government/documents/reports/ 2021/03/18/general-country-of-origin-information-report-turkey/vertaling-aab-turkije.pdf , Zugriff 27.9.2023 [Login erforderlich] 102

■ NM - Nordic Monitor (30.5.2025): Turkeys top court confirms abduction, torture in case involving Turkish intelligence and foreign ministry - Nordic Monitor, https://nordicmonitor.com/2025/05/turkey s-top-court-confirms-abduction-torture-in-case-involving-turkish-intelligence-and-foreign-ministry , Zugriff 24.6.2025 ■ ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Österreich] (4.2025): Asylländerbericht 2024 – ÖB An kara, https://www.ecoi.net/en/file/local/2125282/TUER_ÖB Bericht_2025_04.pdf, Zugriff 13.5.2025 ■ OHCHR - Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights (21.9.2022): Türkiye needs to strengthen effective torture prevention measures, UN experts find, https://www.ohchr.org/ en/press-releases/2022/09/turkiye-needs-strengthen-effective-torture-prevention-measures-un-e xperts, Zugriff 31.10.2023 ■ SCF - Stockholm Center for Freedom (12.7.2024): Over 40 CSOs point to systematic torture practices, impunity in Turkey for UN review - Stockholm Center for Freedom, https://stockholmcf.org/over-4 0-csos-point-to-systematic-torture-practices-impunity-in-turkey-for-un-review , Zugriff 25.9.2024 ■ SCF - Stockholm Center for Freedom (6.1.2022): Torture and Inhuman Treatment in Turkey: 2021 in Review, https://stockholmcf.org/torture-and-inhuman-treatment-in-turkey-2021-in-review/ , Zugriff 30.1.2024 ■ SCF - Stockholm Center for Freedom (17.11.2021): Turkey’s top court fines gov’t for torture in 5 cases, demands investigation into perpetrators, https://stockholmcf.org/turkeys-top-court-fines-gov t-for-torture-in-5-cases-demands-investigation-into-perpetrators/ , Zugriff 30.1.2024 ■ SCF - Stockholm Center for Freedom (22.9.2021): Top Turkish court rules former teacher was tortured in police custody, https://stockholmcf.org/top-turkish-court-rules-former-teacher-was-tortu red-in-police-custody/ , Zugriff 30.1.2024 ■ SCF - Stockholm Center for Freedom (15.9.2021): Turkey’s top court fines gov’t for torture in Afyon province, demands investigation into perpetrators, https://stockholmcf.org/turkeys-top-court-fines-g ovt-for-torture-in-afyon-province-demands-investigation-into-perpetrators/ , Zugriff 30.1.2024 ■ TALI - The Arrested Lawyers Initiative (4.6.2025): Disappeared, Tortured, Ignored: The Story of Zabit Kişi, https://arrestedlawyers.org/2025/06/04/disappeared-tortured-ignored-the-story-of-zabit-kisi , Zugriff 24.6.2025 ■ TİHV/HRFT - Türkiye İnsan Hakları Vakfı / Human Rights Foundation Turkey (11.2024): TREATMENT AND REHABILITATION CENTERS REPORT 2023, https://en.tihv.org.tr/wp-content/uploads/2024/ 12/2023-Treatment-Centres-Report_HRFT.pdf , Zugriff 18.3.2025 ■ TM - Turkish Minute (21.1.2022): Vast majority of police officers suspected of excessive use of force go unpunished - Turkish Minute, https://www.turkishminute.com/2022/01/21/st-majority-of-police-o fficers-suspected-of-excessive-use-of-force-go-unpunished , Zugriff 1.2.2024 ■ UNHRCOM - United Nations Human Rights Committee (28.11.2024): Concluding observations on the second periodic report of Türkiye [CCPR/C/TUR/CO/2, https://www.ecoi.net/en/file/local/21203 09/g2420766.pdf, Zugriff 24.1.2025 ■ USDOS - United States Department of State [USA] (22.4.2024): Country Report on Human Rights Practices 2023 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2024/02/528267_TU ̈RKIYE-2023-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 23.4.2024 [Login erforderlich] 6.1 Entführungen und Verschwindenlassen im In- und Ausland Letzte Änderung 2025-08-06 13:33 Die Türkei hat das Internationale Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Ver schwindenlassen noch nicht unterzeichnet (EC 8.11.2023, S.29). Glaubhafte Berichte von Men schenrechtsorganisationen, der Anwaltskammer Ankara, der Opposition sowie von Betroffenen selbst über Fälle von Folterungen, Entführungen und die Existenz informeller Anhaltezentren halten an. Menschenrechtsgruppen berichteten über vereinzelte Fälle von „ Verschwindenlas sen“, die zum Teil politisch motiviert gewesen seien. Immer wieder werden auch Entführungen aus dem Ausland durchgeführt (ÖB Ankara 4.2025, S. 45). Zu unterscheiden ist zwischen den Entführungen innerhalb Türkei und jenen türkischer Staats bürger im Ausland, um sie in die Türkei zurückzubringen. In Bezug auf Erstere bestreitet die 103

Türkei konsequent jede Beteiligung, in Bezug auf Letztere gibt sie offen zu, diese Entführungen durchgeführt zu haben. In beiden Fällen ist der Ablauf der Ereignisse identisch: (Vermeintliche) Gegner der Regierung werden entführt und verschwinden in der Folge von der Bildfläche, einige sind bis heute vermisst (TT 7.2021, S. 2). Die meisten von ihnen tauchen jedoch nach ein paar Monaten, z. B. in bestimmten Polizeistationen wieder auf (TT 7.2021, S. 2; vgl. FR 15.2.2021, TM 10.9.2021). Auch ist vermeintlich mitunter Folter im Spiel. So berichtete Human Rights Watch über den Fall Ayten Öztürk, die 2019 wegen Verbindungen zur bewaffneten Gruppe Revolu tionäre Volksbefreiungspartei/Front (DHKP-C) vor Gericht gestellt wurde. Sie wurde 2018 vom Flughafen Beirut im Libanon von türkischen Geheimdiensten entführt und in die Türkei gebracht, wo sie gewaltsam verschwand und über fünf Monate lang gefoltert wurde, bevor sie offiziell in Polizeigewahrsam genommen wurde (HRW 22.2.2024, S. 19). Offenkundig eingeschüchtert, schweigen die meisten Betroffenen nach ihrem Wiederauftauchen (TM 10.9.2021). Entführungen und gewaltsames Verschwindenlassen von Personen werden jedenfalls weiterhin vermeldet und nicht ordnungsgemäß untersucht (HRW 13.1.2022; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S. 44). Besorgniserregend ist hierbei nach wie vor, so die Europäische Kom mission, dass extraterritoriale Entführungen und Zwangsrückführungen unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung und des Schutzes der nationalen Sicherheit gerechtfertigt werden (EC 8.11.2023, S. 20). Gemeinsame Recherchen des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF) und acht internationaler Medien, koordiniert vom gemeinnützigen Recherchezentrum Corrective, basierend auf Über wachungsvideos, internen Dokumenten, Augenzeugen und befragten Opfern, ergaben Ende 2018, wonach ein Entführungsprogramm existiert, bei dem der Nationale Nachrichtendienst Millî İstihbarat Teşkilâtı (MİT) nach politischen Gegnern sucht, die dann in Geheimgefängnisse verschleppt - auch aus dem Ausland - und diese foltert, um beispielsweise belastende Aussagen gegen Dritte zu erwirken (ZDF 11.12.2018; vgl. Correctiv 11.12.2018, Haaretz 11.12.2018). Es gibt immer noch kein umfassendes, kohärentes Konzept in Bezug auf vermisste Personen, die Exhumierung von Massengräbern oder die unabhängige Untersuchung aller mutmaßlichen Fälle von außergerichtlicher Tötung durch Sicherheits- und Strafverfolgungsbeamte. Die meisten Ermittlungen in Fällen von gewaltsamem Verschwindenlassen aus den 1990er-Jahren sind nach 20 Jahren verjährt. In den mehr als 1.400 Fällen vermisster Personen wurden nur 16 Gerichtsverfahren eingeleitet. 14 hiervon endeten mit einem Freispruch (EC 8.11.2023, S. 20; vgl. EC 30.10.2024). Laut der „ UN-Arbeitsgruppe gegen gewaltsames und unfreiwilliges Verschwindenlassen“ (UN Working Group against Enforced and Involuntary Disappearances - UN-WGEID) galten mit Stand Juli 2024 von 240 Fällen noch immer fast 83 als ungelöst (UNHRC/WGEID 26.7.2024, S. 31). Ömer Faruk Gergerlioğlu, Menschenrechtsaktivist und Abgeordneter der pro-kurdischen HDP, geht davon aus, dass seit 2016 mindestens 30 Menschen in der Türkei „ verschwunden“ sind. In vielen Fällen handle es sich um ehemalige Staatsbedienstete (FR 15.2.2021; vgl. TM 10.9.2021) oder um Anhänger der Gülen-Bewegung und Kurden (AlMon 17.9.2021; vgl. TT 7.2021, S. 50, TM 10.9.2021). Einige der Entführten werden Berichten zufolge immer noch 104

vermisst. In jüngster Zeit wurden nach Angaben der türkischen Menschenrechtsstiftung (TİHV) neben HDP-Mitgliedern auch mehrere Aktivisten marxistischer Gruppen auf ähnliche Weise verschleppt. Dies bekräftigten auch die vermeintlich entführten Mitglieder der HDP und linker Organisationen selbst (AlMon 17.9.2021). Fast alle Entführten gaben an, dass sie unter Druck gesetzt wurden, ihre Organisationen zu verraten. Einige gaben an, sie seien schwer gefoltert worden (AlMon 17.9.2021; vgl. TT 7.2021, S. 2). Die Entführten werden auch unter Druck gesetzt, sich nicht umfassend zu verteidigen, und gezwungen, Beschwerden über Folter und Misshand lung zurückzuziehen. Außerdem ist es ihnen untersagt, unabhängige Ärzte zu konsultieren, um ihre Verletzungen zu bescheinigen (TT 7.2021, S. 2). Vielfach wurden die Betroffenen wegen Spionage angeklagt (FR 15.2.2021). Laut Gülseren Yoleri von der türkischen Menschenrechts vereinigung İHD habe diese in allen Entführungsfällen Strafanzeige erstattet, doch all diese Fälle seien eingestellt worden. Ein Gesetz, das die Aktivitäten des türkischen Geheimdienstes (MİT) vor Strafverfolgung schützt, sei ein wichtiger Faktor hierbei. Wenn die Entführung eine MİT-Aktivität ist, könne die Staatsanwaltschaft nicht ermitteln, so Yoleri (AlMon 17.9.2021). Der UN-Menschenrechtsausschuss forderte im November 2024, die gesetzlichen Bestimmungen abzuschaffen, die nationalen Geheimdienstmitarbeitern in Fällen von gewaltsamem Verschwin denlassen Immunität vor Strafverfolgung gewähren (UNHRCOM 28.11.2024, S. 5). Entführungen und Verschwindenlassen im Ausland Was die Entführungen türkischer Staatsbürger aus dem Ausland betrifft, so zeigte sich die UN- Arbeitsgruppe gegen gewaltsames und unfreiwilliges Verschwindenlassen (WGEID) zutiefst besorgt darüber, dass eine Reihe von Staaten, namentlich auch die Türkei, weiterhin extra-ter ritoriale Entführungen und Zwangsrückführungen unter dem Vorwand der Terrorismusbekämp fung und des Schutzes der nationalen Sicherheit rechtfertigt. Die Situation in der Türkei sei besonders besorgniserregend, da mindestens 100 türkische Staatsangehörige aus zahlreichen Staaten in die Türkei zwangsrückgeführt worden sein sollen, weil sie im Verdacht stehen, Mit glieder einer angeblichen terroristischen Organisation zu sein oder mit dieser zu sympathisieren (UNHRC/WGEID 7.8.2020, S. 16). 40 von den 100 entführten Personen verschwanden unter Gewaltanwendung, meist von der Straße, oder sie wurden aus ihren Häusern und Wohnungen in der ganzen Welt entführt, in mehreren Fällen zusammen mit ihren Kindern (UNHRC/WGEID 5.5.2020, S. 2). Wenn es den türkischen Behörden nicht gelingt, die Auslieferung auf legalem Wege zu erwirken, greifen sie in Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden von Drittländern, einschließ lich Geheimdiensten und Polizei, auf verdeckte Operationen zurück. Dazu gehören in erster Linie rasche illegale Aktionen, um gefährdete Personen dem Schutz des Gesetzes zu entziehen und sie anschließend zu überstellen (UNHRC/WGEID 5.5.2020, S. 3; vgl. FH 2.2021, S. 10). In einigen Fällen haben diese Handlungen direkt gegen gerichtliche Anordnungen gegen illega le Abschiebungen verstoßen. Angesichts des zunehmenden Drucks seitens der Türkei führen die Aufnahmestaaten eine Rund-um-die-Uhr-Überwachung durch, gefolgt von Hausdurchsu chungen und willkürlichen Verhaftungen in verdeckten Operationen. Die Namen der Personen werden mit vorbereiteten Listen abgeglichen, bevor sie gewaltsam zu nicht gekennzeichneten 105

Fahrzeugen gebracht werden. Sie bleiben bis zu mehreren Wochen in geheimer oder Isolati onshaft verschwunden, bevor sie in die Türkei abgeschoben werden. Während dieser Zeit sind sie häufig Zwang, Folter und erniedrigender Behandlung ausgesetzt, um ihre Zustimmung zu einer freiwilligen Rückkehr zu erlangen und Geständnisse zu erpressen, die bei der Ankunft in der Türkei zur Strafverfolgung dienen sollen. In dieser Phase wird den Betroffenen der Zugang zu medizinischer Versorgung und Rechtsbeistand verwehrt, und sie können die Rechtmäßigkeit der Inhaftierung nicht vor einem zuständigen Gericht anfechten, sodass sie de facto außerhalb des Schutzes des Gesetzes stehen. Ihre Familienangehörigen sind über ihr Schicksal und ihren Verbleib nicht informiert. Den Zeugenaussagen zufolge haben die Opfer dieser Operationen von unverminderten Misshandlungen durch Geheimdienstmitarbeiter berichtet, die vor allem darauf abzielen, ein Geständnis zu erzwingen. Zu den gängigsten Formen der Folter gehören Nahrungs- und Schlafentzug, Schläge, Waterboarding und Elektroschocks (UNHRC/WGEID 5.5.2020, S. 3). Was die Entführungen außerhalb des Hoheitsgebiets betrifft, so hat die Türkei durch mehrere ihrer höchsten Vertreter, inklusive Staatspräsident Erdoğan, die Verantwortung dafür übernom men (TT 7.2021, S. 50; vgl. FH 2.2021, S. 39f) und hierbei insbesondere die Rolle des Ge heimdienstes MİT hervorgestrichen (FH 2.2021, S. 39f). Die Entführungen werden in der Türkei öffentlich verkündet und von den Regierungsmedien gefeiert; die Opfer werden beispielsweise in Handschellen öffentlich präsentiert, bevor sie im Kerker verschwinden (DlF 22.6.2021). Beispiele: Anfang September 2022 verschwand Ugur Demirok in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku auf den Weg in sein Büro. Zwei Monate später verbreitete die staatliche tür kische Nachrichtenagentur Anadolu ein Polizeifoto Demiroks in Handschellen zwischen zwei großen türkischen Fahnen. Laut einer regierungsnahen Tageszeitung hatte der Geheimdienst MİT Demirok „ gefangen“. Auf ihn warte nun eine Anklage wegen Mitgliedschaft in einer Terror organisation (RND 10.12.2022). Auch Flüchtlingslager im Ausland können Ziele der türkischen Sicherheitsbehörden sein. - So nahm 2022 der türkische Geheimdienst MİT bei einem Einsatz im Lager Makhmour im irakischen Gouvernement Ninewa [auch: Nineveh] zwei PKK-Mitglieder fest und verbrachte diese in die Türkei (Shafaq 14.9.2022). Nach den Wahlen im Mai 2023 setzte der türkische Geheimdienst seine Praxis fort, in Zusammenarbeit mit Behörden in Län dern mit schwachen Rechtsstaatlichkeitsstrukturen Personen, die angeblich Verbindungen zur Gülen-Bewegung haben, zu entführen und an die Türkei auszuliefern. Im Juli und September 2023 umgingen beispielsweise die tadschikischen Behörden die gesetzlichen Auslieferungsver fahren, indem sie Emsal Koç und Koray Vural entführten und in die Türkei flogen, wo sie bis zu ihrem Prozess in Untersuchungshaft genommen wurden (HRW 22.2.2024). Am 21.10.2024 erklärte das kenianische Außenministerium, dass vier türkische Staatsangehörige auf Ersuchen der türkischen Regierung von Kenia in die Türkei überführt worden seien. Laut Berichten sollen die Betroffenen vom türkischen Nachrichtendienst MİT entführt und teilweise vor Ort verhört worden sein, bevor sie in die Türkei überführt worden waren. Bei den vier Personen handelt es sich um Geflüchtete, die beim UNHCR registriert waren, was sie vor einer Zwangsrückführung in die Türkei schützen sollte (BAMF 28.10.2024, S. 11; vgl. SCF 21.10.2024, BBC 21.10.2024, taz 21.10.2024). UNHCR zeigte sich ob der Vorgänge „ zutiefst besorgt“ (BBC 21.10.2024). Ein 106

weiteres Beispiel ist die Festnahme von Kadir Çelik, Mitglied der Maoistischen Kommunistischen Partei (MKP), durch den Geheimdienst MİT in einem nicht näher genannten Land des Nahen Ostens im November 2024 (AnA 20.11.2024). Reaktionen internationaler Institutionen In seiner Entschließung vom Juni 2022 verurteilt das Europäische Parlament „ aufs Schärfste die Entführung türkischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz außerhalb der Türkei und deren Auslieferung in die Türkei, was eine Verletzung des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit und der grundlegenden Menschenrechte darstellt“ (EP 7.6.2022, S. 19, Pt. 31). Im Juni 2023 verabschiedete die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) eine Resolution zur transnationalen Gewalt. Die Resolution verurteilt alle Formen und Prak tiken der grenzüberschreitenden Repression, einschließlich derjenigen, die direkt von einem Herkunftsstaat außerhalb seiner Grenzen ausgeübt werden, und derjenigen, bei denen ein Her kunftsstaat andere Staaten mit einbezieht, um rechtswidrig gegen eine Zielperson in seinem eigenen Hoheitsgebiet vorzugehen. In diesem Kontext zeigte sich PACE besorgt darüber, dass die Türkei einige der Instrumente der transnationalen Repression eingesetzt hat, insbesonde re nach dem Putschversuch vom Juli 2016 bei der Verfolgung von vermeintlichen Anhängern der Gülen-Bewegung. Zu diesen Instrumenten gehören: Überstellungen, der Missbrauch von Auslieferungsverfahren, INTERPOL Red Notices und Maßnahmen zur Bekämpfung der Terro rismusfinanzierung sowie die Zusammenarbeit mit anderen Staaten (CoE-PACE 23.6.2023). Der UN-Menschenrechtsausschuss zeigte sich Ende November 2024 ebenfalls besorgt über Berichte über die extraterritoriale Entführung und gewaltsame Überstellung von mehr als 100 Personen, die verdächtigt werden, der Gülen-Bewegung anzugehören, sowie von politischen Gegnern oder regierungskritischen Journalisten, ohne dass ein gerichtliches Auslieferungsver fahren durchgeführt wurde. Der Ausschuss äußert seine Besorgnis über den mutmaßlichen Missbrauch der „ Red Notices“ von INTERPOL gegen diese Personen und über die Anwendung politisch motivierter Auslieferungsverfahren. Der Ausschuss verlangte u. a, dass die Türkei al le Fälle von gewaltsamem Verschwindenlassen aufklären und unverzüglich unparteiische und gründliche Ermittlungen durchführen und sicherstellen, dass die Opfer und ihre Angehörigen über den Verlauf und die Ergebnisse der Ermittlungen informiert werden sollten. Außerdem sollten die Verantwortlichen strafrechtlich verfolgt werden und die Opfer des gewaltsamen Ver schwindenlassens und ihre Familien eine umfassende Wiedergutmachung erhalten (UNHRCOM 28.11.2024, S. 5f.). Zuletzt äußerte sich auch das Anti-Folter-Komitee (CAT) der Vereinten Nationen im Sommer 2024 „ besorgt über die Vorwürfe, wonach es eine systematische Praxis staatlich geförderter exterritorialer Entführungen und erzwungener Rückführungen von Personen gibt, die angeb lich mit der Hizmet/Gülen-Bewegung in Verbindung stehen, in Abstimmung mit Behörden in Afghanistan, Albanien, Aserbaidschan, Kambodscha, Gabun, Kasachstan, Libanon und Paki stan sowie mit Behörden im Kosovo, […] Solche Entführungen sollen unter Beteiligung des Nationalen Nachrichtendienstes […] stattgefunden haben und Menschenrechtsverletzungen 107
