2025-09-05-coi-cms-laenderinformationen-tuerkei-version-10-d827
Dieses Dokument ist Teil der Anfrage „Länderinformationsblätter“
des Europarates bewertete in ihrer Stellungnahme aus dem Jahr 2016 die Vereinbarkeit von Artikel 216 (3) mit internationalen Menschenrechtsnormen. In der Stellungnahme wurde auf die Empfehlung 1805 (2007) der Parlamentarischen Versammlung des Europarats zu Blasphemie, religiösen Beleidigungen und Hassreden gegen Personen aufgrund ihrer Religion verwiesen, in der es heißt, dass „ das nationale Recht nur Äußerungen über religiöse Angelegenheiten bestra fen sollte, die die öffentliche Ordnung absichtlich und schwerwiegend stören und zu öffentlicher Gewalt aufrufen“. Artikel 216 (3) „ sollte nicht zur Bestrafung von Blasphemie angewandt wer den, sondern auf Fälle religiöser Beleidigungen beschränkt werden, die die öffentliche Ordnung absichtlich und schwerwiegend stören und zu öffentlicher Gewalt aufrufen“ (NORHC 25.8.2022, S. 17; vgl. DFAT 16.5.2025, S. 15). In der Türkei gibt es eine starke Tendenz, Artikel 216 (3) nur im Zusammenhang mit dem Islam anzuwenden und nicht im Zusammenhang mit Beleidigung oder Hass gegen andere Religionen oder Glaubensrichtungen (NORHC 25.8.2022, S. 17; vgl. USCIRF 3.2025, S. 66). Allerdings wurde im Februar 2023 ein Volkssänger zu sechs Monaten Haft verurteilt, weil er in einem Liedtext eine heilige Figur der Aleviten verspottete und damit „ religiöse Werte“ beleidigt hatte. Die Strafe wurde später in eine Geldstrafe umgewandelt (DFAT 16.5.2025, S. 15). Das Strafgesetzbuch verbietet nicht nur die „ Erregung von Hass und Feindseligkeit“, sondern stellt auch die öffentliche Respektlosigkeit gegenüber religiösen Überzeugungen unter Strafe. Das Gesetz bestraft beleidigende Äußerungen gegenüber Wertvorstellungen, die von einer Re ligion als heilig betrachtet werden (USDOS 30.6.2024; vgl. BMZ/AA 22.11.2023, S.152). Die Beleidigung einer Religion wird mit sechs Monaten bis zu einem Jahr Gefängnis sanktioniert. Die Störung des Gottesdienstes einer religiösen Gruppe wird mit ein bis drei Jahren, die Beschä digung religiösen Eigentums mit drei Monaten bis zu einem Jahr und die Zerstörung religiösen Eigentums mit ein bis vier Jahren Gefängnis bestraft. Da es illegal ist, Gottesdienste an Orten abzuhalten, die nicht als Gebetsstätten registriert sind, gelten diese gesetzlichen Verbote in der Praxis nur für anerkannte religiöse Gruppen (USDOS 30.6.2024). Das Strafgesetzbuch verbie tet es überdies, religiösen Führern während der Ausübung ihres Amtes die Regierung oder die Gesetze des Staates „ zu tadeln oder zu verunglimpfen“. Darauf stehen Gefängnisstrafen von bis zu einem Jahr, im Falle einer Aufstachelung zur Missachtung des Gesetzes sogar von bis zu drei Jahren (USDOS 15.5.2023). Es wurden zahlreiche Einzelpersonen und Einrichtungen wegen „ Beleidigung religiöser Werte“ oder Blasphemie strafrechtlich verfolgt (USCIRF 5.2023, S.66; vgl. USCIRF 3.2025, S.66). Laut letztmaliger Statistik des Justizministeriums, welche noch den Artikel 216 getrennt auswies, wur den im Jahr 2020 insgesamt 317 Personen (296 Männer und 21 Frauen) gemäß Artikel 216 zu unterschiedlichen Strafen verurteilt. Zu einer Haftstrafe wurden 94, zu einer bedingten Haftstrafe 19 und zu einer Verwaltungsstrafe 45 verurteilt. (Der Rest viel auf andere Strafkategorien.) (MoJ - GDJR&S 2021, S. 109, 118, 127, 136; vgl. NORHC 25.8.2022, S. 17). Die Türkei macht nicht nur vom entsprechenden Artikel des Strafgesetzbuchs Gebrauch, son dern gehört auch zu den Top-10-Ländern der Welt, in denen Fälle von angeblicher Blasphemie durch die Nutzung sozialer Medien verfolgt werden. Beispiele: Im Jänner 2022 machte die 228

türkische Popsängerin Sezen Aksu Schlagzeilen, nachdem sie einen Clip eines fünf Jahre al ten Liedes von sich auf YouTube geteilt hatte. Das Lied erregte in den sozialen Medien große Aufmerksamkeit und löste bei mehreren Regierungsvertretern Kritik aus, weil der Text die re ligiösen Figuren Adam und Eva als „ ignorant“ bezeichnete. Nach dem Freitagsgebet in jenem Monat warnte Präsident Erdoğan, ohne Aksu namentlich zu nennen, dass „ niemand gegen seine Heiligkeit Adam sprechen darf. Wenn es sein muss, ist es unsere Pflicht, diese Zungen heraus zureißen. Niemand kann gegen unsere Mutter Eva sprechen. Es ist unsere Pflicht, diejenigen, die gegen sie sprechen, auf ihren Platz zu verweisen.“ Regierungsnahe Juristen erstatteten gegen die Sängerin Anzeige, die staatliche Religionsbehörde Diyanet und die Rundfunkbehörde RTÜK griffen ebenfalls ein (USCIRF 12.2022, S. 3; vgl. NZZ 1.2.2022). Im Jänner 2024 reichte das Diyanet Strafanzeige gegen den armenischen Autor Sevan Nişanyan ein, weil er 2021 auf YouTube den islamischen Gebetsruf verunglimpft hatte, indem er sich über dessen Lautstärke beschwerte (Duvar 25.1.2024; vgl. USCIRF 3.2025, S. 66). Im Februar 2024 ließ die Staatsan waltschaft Istanbul die Rechtsanwältin Beykoz Feyza Altun wegen eines Social-Media-Beitrags festnehmen, in welchem sie die Scharia verunglimpfte bzw. verurteilte. Die Istanbuler Gene ralstaatsanwaltschaft warf ihr die „Anstiftung zu Hass und Feindseligkeit“ gemäß Art. 216 des Strafgesetzbuches vor. Das Gericht entließ sie zwar einen Tag später, verhängte jedoch ein Ausreiseverbot (Duvar 19.2.2024; vgl. Cumhuriyet 20.2.2024, USCIRF 3.2025, S. 66), und im Mai 2024 wurde sie zu neun Monaten bedingt verurteilt (TM 17.5.2024). Heftige Diskussion und Straßenproteste löste einer Karikatur im regierungskritischen Satire magazin LeMan aus, das immer wieder ins Visier der Justiz sowie von regierungsnahen isla mistischen Bruderschaften gerät. Die veröffentlichte Karikatur zeigt zwei schwebende Männer mit Engelsflügeln, die sich einander als Mohammed und Moses vorstellen. Im Hintergrund sind Kugelhagel und brennende Häuser zu sehen, die Gaza symbolisieren. Die Istanbuler Staatsan waltschaft ermittelte wegen Volksverhetzung und Herabwürdigung religiöser Werte nach Art. 216 des Strafgesetzbuches. Gegen sechs Mitarbeiter des Magazins wurden Haftbefehle erlassen, vier von ihnen wurden abgeführt. Innenminister Yerlikaya bezeichnete die Karikatur als „ ab scheulich“ und als „ Provokation“. Konservativ-islamistische Gruppen versammelten sich nachts vor der LeMan-Redaktion, bewarfen Fenster mit Steinen und griffen insbesondere das Café an, das als Treffpunkt der LeMan-Mitarbeiter und ihrer Fans bekannt ist (DW 1.7.2025; vgl. Stan dard 1.7.2025b, TM 1.7.2025). Die Polizei war präsent, griff aber nicht ein. Stattdessen stürmten andere Polizisten die Redaktion. Es entwickelte sich ein Tumult, an dem rund 300-400 Leute beteiligt waren: Gäste des Lokals, die sich gegen die Islamisten verteidigten, und Polizisten, die Gäste festnahmen. (Standard 1.7.2025b; vgl. TM 1.7.2025). LeMan stellte klar, dass der in der Karikatur dargestellte Mann nicht der Prophet Mohammed sei, sondern ein unschuldig getöteter Moslem in Gaza, der eben Mohammed heiße (DW 1.7.2025; vgl. TM 1.7.2025). Tuncay Akgün, Chefredakteur von Leman, sagte, das Bild sei absichtlich falsch interpretiert worden (Standard 1.7.2025b). Staatspräsident Erdoğan verurteilte die Karikatur als Hassverbrechen und fügte hin zu, „ dass diejenigen, die sich gegenüber unserem Propheten und anderen Propheten respektlos verhalten, vor dem Gesetz zur Rechenschaft gezogen werden“ (TM 1.7.2025). 229

Dass es auch zu Haftstrafen kommen kann, zeigt das Beispiel vom Oktober 2023, als ein Mann wegen „ Beleidigung der religiösen Werte eines Teils der Öffentlichkeit“ zu 7 1/2 Monaten Gefängnis verurteilt, als er in den sozialen Medien ein Foto veröffentlichte, welches Alkohol in einer Moschee zeigte. Im selben Monat nahmen die Behörden drei 16-Jährige wegen Be leidigung religiöser Werte in den sozialen Medien fest. In einem Fall von behördlicher Zensur verbot ein Gericht im Februar die Koranübersetzung des Theologen İhsan Eliaçık, weil sie ver meintlich Elemente enthält, die im Hinblick auf die grundlegenden Eigenschaften des Islams zu beanstanden seien (USCIRF 5.2024, S. 70). Die staatliche Religionsverwaltung und Religionspolitik Das Amt für Religionsangelegenheiten (Diyanet), eine durch die Verfassung eingerichtete staat liche Institution, regelt und koordiniert religiöse Angelegenheiten im Zusammenhang mit dem Islam. Laut Gesetz hat das Diyanet den Auftrag, den Glauben, die Praktiken und die morali schen Grundsätze des Islams zu ermöglichen und zu fördern - wobei der Schwerpunkt auf dem sunnitischen Islam liegt - die Öffentlichkeit über religiöse Fragen aufzuklären und Moscheen zu verwalten (USDOS 30.6.2024; SE 2.1.2024). Im Juni 2025 erhielt der Diyanet-Rat per Gesetz die Kompetenz, die religiösen Inhalte von Publikationen zu überwachen und Koranüberset zungen zu zensieren, welche er als „ unangemessen“ erachtet. Nach dem neuen Gesetz kann der Rat, wenn er solche Texte als „ im Sinne der Grundprinzipien des Islam anstößig“ einstuft, deren Verbreitung untersagen, bereits vorhandene Exemplare einziehen und die Materialien vernichten lassen. Im Falle von Oneline-Publikationen kann das Diyanet per Gerichtsanweisung Inhalte entfernen oder blockieren lassen (TM 4.6.2025). Das Diyanet ist verwaltungstechnisch unter dem Büro des Staatspräsidenten angesiedelt. Der Leiter des Diyanet wird vom Staatspräsidenten ernannt und von einem 16-köpfigen Rat verwaltet, der von Klerikern und den theologischen Fakultäten der Universitäten gewählt wird. Obwohl das Gesetz nicht vorschreibt, dass alle Mitglieder des Rates sunnitische Muslime sein müssen, ist dies in der Praxis der Fall (USDOS 30.6.2024; SE 2.1.2024). Diyanet ist eine der größten religiösen Institutionen der Welt, die jenseits der Türkei weltweit tätig ist. Sie wird aus dem Staatshaushalt finanziert. Im Jahr 2023 wurde das Budget von Diyanet bereits auf 3,18 Milliarden US-Dollar aufgestockt (SE 2.1.2024) und für das Jahr 2025 waren bereits 130,1 Milliarden Lira, rund 3,8 Milliarden US-Dollar, veranschlagt, was mehr ist als die Budget-Mittel für das Innen- oder Außenministerium (Duvar 20.10.2024). Während das Diyanet alle Angelegenheiten bezüglich der Ausübung des Islams verwaltet, ist die Generaldirektion für Stiftungen (Vakiflar) für alle anderen Religionen zuständig (DFAT 16.5.2025, S. 14). Kritiker werfen der AKP vor, sunnitische Muslime zu bevorzugen (FH 26.2.2025, B4) und verwei sen auf die Umgestaltung des Bildungssystems, welches den islamischen Unterricht in säkularen Schulen begünstigt und den Aufstieg religiöser Schulen gefördert hat. Die AKP baute auch das Diyanet aus und nutzte diese Institution als Kanal für politische Klientelpolitik. Neben anderen Funktionen nutzt die Partei das Diyanet, um regierungsfreundliche Predigten in Moscheen in der Türkei sowie in Ländern, in denen die türkische Diaspora präsent ist, zu verbreiten (FH 10.3.2023, B4). Seit ihrer Machtübernahme hat die AKP-Regierung eine Reihe von Maßnahmen 230

ergriffen, die ihre Sicht des Islams und der Gesellschaft widerspiegeln. Dazu gehört die Anpas sung der Lehrpläne, um Themen wie Darwins Evolutionstheorie zu eliminieren. Darüber hinaus versucht die Regierung, den Alkoholkonsum zu reduzieren, indem sie hohe Steuern einführt und Werbung für Alkohol verbietet. Die Regierung fördert auch sog. „ nationale und spirituelle Werte“ durch die von ihr kontrollierten Medien und unterstützt die islamische Zivilgesellschaft mit Ressourcen. Bereits 2010 hob die AKP-Regierung das von einigen türkischen Frauen als diskriminierend empfundene Verbot des Tragens eines Kopftuches auf, wenn sie in staatlichen Einrichtungen arbeiten oder studieren wollen (MBZ 31.10.2019). Das Kopftuch ist das einzige religiöse Symbol, das für Beamte oder Schüler in Grund-, Mittel- oder Oberschulen erlaubt ist. Andere religiöse Symbole wie die Kippa, das Kreuz oder der Zulfikar [Symbol von Schiiten, Aleviten und Alawiten] sind hingegen nicht erlaubt (NHC-FBI 19.4.2022, S. 39). Das türkische Bildungssystem garantiert keine Neutralität und Unparteilichkeit gegenüber ver schiedenen Religionen, Konfessionen und Glaubensrichtungen, (EC 30.10.2024, S. 31). Die Zahl der Religionsschulen, die den sunnitischen Islam fördern, ist unter AKP-Regierungszeit gestiegen (MBZ 31.10.2019). Der staatliche Unterricht umfasst einen verpflichtenden Religions unterricht, wobei sich die Regierung auch weiterhin nicht an ein Urteil des EGMR aus dem Jahr 2013 gehalten hat, wonach der von der Regierung verordnete verpflichtende Religionsunter richt an öffentlichen Schulen gegen die Bildungsfreiheit verstößt (USDOS 30.6.2024; vgl. EC 30.10.2024, S. 31). Im Gegenteil. - Im August 2023 erließ die Regierung eine Verordnung, wo nach Schüler der Mittelstufe (fünfte bis zehnte Klasse) wöchentlich zwei zusätzliche Stunden Religionsunterricht im sunnitischen Islam besuchen müssen. Die Lehrergewerkschaft Eğitim Sen bezeichnete diese Änderung als Verstoß gegen die Religions- und Gewissensfreiheit (USDOS 30.6.2024). Der grundsätzlich verpflichtende Religionsunterricht ist stark sunnitisch-hanafitisch geprägt und entspricht nicht pluralistischen Standards (BMZ/AA 22.11.2023, S. 152; vgl. USCIRF 3.2025, S. 67). Säkularisten, Aleviten, protestantische Christen und andere Gemeinschaften äußerten zusätzliche Beschwerden über angeblich „ frei wählbare“ Kurse (z. B. Musik, Sport), in denen der Unterricht häufig ausdrücklich auf den sunnitischen Islam Bezug nimmt (USCIRF 3.2025, S. 67). Das Verfassungsgericht entschied im April 2022, dass der obligatorische Religionsunterricht gegen die Religionsfreiheit verstößt, und bestätigte damit die beiden früheren Urteile des Euro päischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), welcher die Türkei wegen des Prinzips und des Inhalts des obligatorischen Religionsunterrichts kritisiert hatte (AlMon 12.4.2022; vgl. BMZ/ AA 22.11.2023, S. 152). Eine Umsetzung des Urteils ist bislang nicht erfolgt (BMZ/AA 22.11.2023, S. 152). Das Bildungsministerium hat die Freistellungsmöglichkeit für alle nicht-muslimischen Schüler (nicht nur für jene im Lausanner Vertrag genannten) 2009 offiziell eingeräumt, voraus gesetzt, die entsprechende Religionszugehörigkeit ist im Personenstandsregister eingetragen (BMZ 10.2020). Für Nichtgläubige besteht keine Möglichkeit zur Freistellung. Seit 2016 erscheint die Religionszugehörigkeit nicht mehr im Personalausweis (BMZ/AA 22.11.2023, S. 152) wird aber weiterhin im Personenstandsregister verpflichtend erfasst und ist für die Verwaltung inklu sive der Polizei einsehbar (BMZ/AA 22.11.2023, S. 152; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S.30). Atheisten, Agnostiker, Baha’i, Jesiden, Hindus, Buddhisten, Aleviten, andere nicht-sunnitische Muslime 231

oder diejenigen, die den Abschnitt „ Religion“ auf ihrem nationalen Personalausweis [vor 2016] leer gelassen haben, werden selten vom Religionsunterricht befreit (USDOS 30.6.2024). Religiöse Einstellungen der Bevölkerung Während ein Großteil der Bevölkerung an den von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) geförderten Werten des sozialen Konservativismus und der religiösen Frömmigkeit festhält, gibt es auch einen großen Teil der Bevölkerung, der Religion in erster Linie als Privatsache betrachtet. Zu dieser Gruppe gehören Menschen mit sehr unterschiedlichen Hintergründen und Lebensstilen, wobei der Säkularismus der wichtigste gemeinsame Nenner ist. Sie fühlen sich durch staatliche Maßnahmen im Sinne einer Islamisierung zunehmend margina lisiert (MBZ 31.10.2019). In einer vom Ankara-Institut durchgeführten Studie wurde festgestellt, dass 92,3 % der türkischen Bevölkerung sich als Muslime bezeichnen, während 6 % Atheisten (2,7%) oder Deisten (3,2%) sind. Die Mehrheit der Teilnehmer, 86 %, glaubt an die Existenz Gottes, und 62 % glauben an die Erfüllung religiöser Anforderungen. Diejenigen, die sich als religiös bezeichnen, machten 70 % aus (BNN 7.11.2023). Den Ergebnissen einer Umfrage des KONDA-Instituts zufolge sank der Anteil der Befragten, die sich als streng gläubig oder fromm bezeichneten, von 55 % im Jahr 2008 auf 46 % im Jahr 2025. Im Gegensatz dazu stieg der Anteil der Menschen, die sich als Atheisten oder Nichtgläubige bezeichneten, im gleichen Zeit raum von 2 % auf 8 %. Der Anteil der Befragten, die sich als „ gläubig“ bezeichneten, sich aber nicht als „ streng gläubig“ betrachteten, stieg leicht von 31 % auf 34 %. Die einzige Gruppe, die unverändert blieb, waren die „ sehr streng Gläubigen“, deren Anteil in beiden Umfragen bei 12 % lag (TM 30.5.2025). Religiöse Minderheiten als Ziele staatlicher und gesellschaftlicher Anfeindungen Regierungsvertreter bedienen sich zunehmend einer Rhetorik, die auf religiöse Minderheiten abzielt oder diese ausgrenzt (USCIRF 5.2024, S. 70). Neben der Rhetorik gegen Minderhei tengruppen geben die aggressive Kampagne seitens der Regierung und der Medien gegen Israel im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt Anlass zur Sorge. Die Wortwahl hat sich seit dem Terrorangriff der Hamas vom 7.10.2023 und dem darauffolgenden Militäreinsatz Is raels in Gaza massiv verschärft. - Staatspräsident Erdoğan hat den Terrorangriff der Hamas als Freiheitskämpfer eingestuft. Ein anti-westliches, insbesondere gegen Europa gerichtetes Islamophobie-Narrativ dominiert den Diskurs. Das Zusammenspiel dieser Tendenzen begüns tigt eine gegenüber religiösen Minderheiten feindliche Stimmung, die auch in Hassreden in sozialen Medien Ausdruck findet. Letztere werden von den Justizbehörden oft als Ausdruck freier Meinungsäußerung toleriert, was implizit zu Gewalt und Aggression ermutigt (ÖB Ankara 4.2025, S.33; vgl. EC 30.10.2024, S. 31). Die Anfeindungen richten sich gegen Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften und deren Gotteshäuser, zugehörige Einrichtungen, religiö se/spirituelle Führer und Mitglieder, und diese Straftaten bleiben zumal ungestraft. Die derzeitige Gesetzgebung ist unzureichend, um gegen Hassverbrechen vorzugehen. Die Straftaten werden weder ausreichend gemeldet noch von den Behörden ausreichend erfasst (NHC-FBI 19.4.2022, S. 37). Es kommt zu Vandalismus und der Zerstörung von Gebetsstätten und Friedhöfen von Minderheiten (EC 30.10.2024, S. 31). Im Mai 2025 forderte das Europäische Parlament „ die 232

staatlichen Stellen der Türkei auf, Fälle von Hassdelikten, einschließlich Hetze, gegen Min derheiten wirksam zu untersuchen und die Verantwortlichen strafrechtlich zu verfolgen“ (EP 7.5.2025, Pt.27). Antisemitische und antichristliche Ressentiments gehören nicht nur in der (regierungsnahen) Boulevardpresse und in sozialen Medien zum Standardrepertoire. Auch hochrangige Politiker bis in die Staatsspitze und Führung der Opposition greifen in ihren öffentlichen Äußerungen gelegentlich auf antisemitische bzw. antiarmenische Verschwörungstheorien zurück(BMZ/AA 22.11.2023, S. 154; vgl. USDOS 30.3.2021, S.90). Siehe auch: Religionsfreiheit und religiöse Minderheiten / Christen und Juden Quellen ■ AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (20.5.2024): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und ab schiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Januar 2024), https://www.ecoi.net/en/file /local/2110308/Auswärtiges_Amt,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_ der_Republik_Türkei,_20.05.2024.pdf, Zugriff 27.6.2024 [Login erforderlich] ■ ACN - Kirche in Not (2023): Türkei Report 2023, https://acninternational.org/religiousfreedomreport/ de/berichte/land/2023/turkei, Zugriff 6.12.2024 ■ AlMon - Al Monitor (12.4.2022): Turkey’s top court rules compulsory religion courses violate rights, https://www.al-monitor.com/originals/2022/04/turkeys-top-court-rules-compulsory-religion-courses -violate-rights, Zugriff 29.11.2023 ■ Bianet - Bianet (12.4.2022): Why Turkey’s minorities not able to elect their community leaders for nine years?, https://bianet.org/english/minorities/260380-why-turkey-s-minorities-not-able-to-elect -their-community-leaders-for-nine-years , Zugriff 29.11.2023 ■ BMI/BMLVS - Bundesministerium für Inneres [Österreich], Bundesministerium für Landesverteidi gung und Sport [Österreich] (2017): Atlas: Middle East & North Africa, https://www.ecoi.net/en/file/l ocal/1408000/90_1487770786_2017-02-bfa-mena-atlas.pdf , Zugriff 27.8.2024 ■ BMZ - Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung [Deutschland] (10.2020): Zweiter Bericht der Bundesregierung zur weltweiten Lage der Religionsfreiheit, https: //www.auswaertiges-amt.de/blob/2410402/9e394a9928461b6c4ac0d4368b7a26af/201028-zweiter -bericht-der-bundesregierung-zur-weltweiten-lage-der-religionsfreiheit-data.pdf , Zugriff 24.11.2023 ■ BMZ/AA - Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung [Deutschland], Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.11.2023): Dritter Bericht der Bundesregierung zur weltweiten Lage der Religionsfreiheit (Berichtszeitraum 2020 bis 2022), https://religionsfreiheit.bmz.de/resourc e/blob/190798/dritter-religions-und-weltanschauungsfreiheitsbericht.pdf , Zugriff 24.11.2023 ■ BNN - BNN Network (7.11.2023): Perception of Religiosity in Turkey: A Study by Ankara Institute, https://bnn.network/world/turkey/perception-of-religiosity-in-turkey-a-study-by-ankara-institute/ , Zugriff 30.11.2023 ■ Cumhuriyet - Cumhuriyet (20.2.2024): Feyza Altun’s release: Lawyer freed after social media de tention, https://www.cumhuriyetdaily.com/turkiye/feyza-altuns-release-lawyer-freed-after-social-m edia-detention-2134705, Zugriff 11.6.2025 ■ DFAT - Department of Foreign Affairs and Trade [Australien] (16.5.2025): DFAT Country Information Report; Türkiye, https://www.dfat.gov.au/sites/default/files/country-information-report-turkey.pdf , Zugriff 21.5.2025 ■ DlF - Deutschlandfunk (12.7.2020): Religionsfreiheit - Schwere Zeiten für Protestanten in der Türkei, https://www.deutschlandfunkkultur.de/religionsfreiheit-schwere-zeiten-fuer-protestanten-in-der-100 .html, Zugriff 10.9.2024 ■ Duvar - Duvar (20.10.2024): Turkish top religious body demands 130 bln liras for 2025 budget, https://www.duvarenglish.com/turkish-top-religious-body-demands-130-bln-liras-for-2025-budge t-news-65129, Zugriff 6.12.2024 ■ Duvar - Duvar (19.2.2024): Famous Turkish lawyer Feyza Altun detained over sharia remark, https: //www.duvarenglish.com/famous-turkish-lawyer-feyza-altun-detained-over-sharia-remark-news-6 3861, Zugriff 11.6.2025 233

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Zahl von zehn bis 25 Millionen hin (USCIRF 3.2025, S.67; vgl. MRG 6.2018a, DFAT 16.5.2025, S.15). Die Aleviten haben traditionell ein problematisches Verhältnis zum türkischen Staat. - Ein Grund sind die historischen staatlichen oder gesellschaftlichen Gewalttaten. Tragische Höhepunkten waren die Zerstörung der alevitischen Provinz Dersim (heute Tunceli) 1938, die Tausende Todes opfer forderte, die Pogrome in Kahramanmaraş 1978 und Çorum 1980 (BPB 14.9.2014) sowie das Massaker von Sivas am 2.7.1993, bei dem, während eines alevitischen Festivals, ein Hotel durch sunnitische Fundamentalisten in Brand gesetzt wurde, in dessen Folge 37 Menschen den Tod fanden (BPB 14.9.2014; vgl. DFAT 16.5.2025, S.16). In dieser Beziehung lassen sich zwei Hauptthemen, nämlich Anerkennung der Aleviten als Religionsgemeinschaft und die Befreiung vom Religionsunterricht ausmachen (MBZ 2.2025a, S. 68). - Aleviten werden nicht als religiöse Minderheit anerkannt und genießen daher keine Minderheitenrechte (BMZ/AA 22.11.2023, S. 151; vgl. GfbV o.D., USCIRF 5.2024, S. 70). Die türkische Regierung stuft das Alevitentum als eine Glaubensrichtung innerhalb des sunnitischen Islam ein, daher werden Aleviten in den Meldeämtern offiziell als „ islamisch“ gekennzeichnet (BMZ/AA 22.11.2023, S. 151; vgl. GfbV o.D., DFAT 16.5.2025, S.16, USCIRF 3.2025, S. 66). Viele Aleviten sind auch ethnische Kurden, wobei die Schätzungen ihrer Anzahl zwischen einer halben und mehreren Millionen liegen (DFAT 16.5.2025, S.15). Einer anderen Quelle zufolge, welche von der Sprache ausgeht, sind ungefähr zwei Drittel türkischsprachig, das restliche Drittel spricht eine der beiden nordwestiranischen Sprachen Kurmanci [eine der Varianten des Kurdischen] und Zazaki [Anm.: gilt laut manchen Linguisten als eigene Sprache, getrennt vom Kurdischen] (BPB 14.9.2014). Kurdische Aleviten identifizieren sich primär eher als Aleviten (DFAT 16.5.2025, S.15). Politisch stehen die kurdischen Aleviten vor dem Dilemma, ob sie ihrer ethnischen oder ihrer religiösen Gemeinschaft gegenüber loyal sein sollen. Einige kümmern sich mehr um die religiöse Solidarität mit den türkischen Aleviten als um die ethnische Solidarität mit den Kurden, zumal viele sunnitische Kurden sie missbilligen (MRG 6.2018a). Während die Aleviten über die ganze Türkei verstreut sind, konzentrieren sich die alevitischen Kurden auf Zentral- und Ost-Anatolien, Istanbul und andere Großstädte. Tunceli (Dersim) [östliche Zentraltürkei] ist das Zentrum des alevitischen Glaubens. Seine Bevölkerung ist überwiegend (zu 95 %) alevitisch. Durchschnittliche Aleviten verhalten sich in der Gesellschaft in der Regel unauffällig und betonen ihre religiöse Identität nicht (DFAT 16.5.2025, S.15f.). Aleviten sind von einer systemischen Diskriminierung in Schulen und im öffentlichen Bereich betroffen (FH 26.2.2025, F4; vgl. USCIRF 5.2024, S. 70). Aktivitäten alevitischer Vereine und Stiftungen werden nicht selten durch bürokratische Hürden erschwert. In Regierung, Verwal tung und Parlament sind Aleviten unterrepräsentiert. Ihre Bemühungen, sich politisch Gehör zu verschaffen, werden oft als Versuch gewertet, künstlich eine Minderheit zu schaffen und die territoriale Einheit und Integrität der türkischen Nation zu gefährden (BAMF 4.11.2024c, S. 1). Religionspolitik bez. alevitischer Kultstätten - Cemevis 236

Das Alevitentum wird offiziell weiterhin als heterodoxe muslimische „ Sekte“ oder kulturelle Grup pe behandelt, nicht jedoch als religiöses Bekenntnis anerkannt. Dies führt dazu, dass alevitische Gebetshäuser (Cemevis oder Cemevleri) in vielen Gemeinden nicht als Gotteshäuser anerkannt sind, und dies trotz anderslautender Urteile des Obersten Berufungsgerichtes (Kassationsge richt) vom November 2018 und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) (USDOS 30.6.2024; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S.37, AA 20.5.2024, S. 11). Infolgedessen stehen die Gebetshäuser nicht unter dem Schutz des türkischen Strafgesetzes (ÖB Ankara 4.2025, S.37). Ende September 2021 sah das Ministerkomitee des Europarates laut eigenen Angaben in der ungerechtfertigten und diskriminierenden Weigerung, den Glauben der alevitischen Ge meinschaft als Religion anzuerkennen, einen Grund, das Monitoring der Türkei fortzusetzen (CoE 15.6.2023, S.2). Führungspersönlichkeiten der Aleviten nannten die Anzahl der 2.500 bis 3.000 Gebetshäuser als unzureichend, um die Bedürfnisse der Gläubigen zu befriedigen. Die Regierung erklärte wei terhin, dass die vom Religionsamt Diyanet finanzierten sunnitischen Moscheen den Aleviten und allen Muslimen zur Verfügung stünden, unabhängig von ihrer religiösen Überzeugung (USDOS 30.6.2024). Diyanet gibt das staatlich zugeteilte Geld ausschließlich zugunsten des sunnitischen Islam aus. Da die Aleviten von der türkischen Regierung nicht als Religionsgemeinschaft aner kannt werden, kann die alevitische Gemeinschaft eben nicht auf die finanzielle Unterstützung von Diyanet zählen (MBZ 2.2025a, S. 68). - Abweichend von der Regierungslinie, wurden den Aleviten vereinzelt auf lokaler Ebene Rechte und Unterstützung eingeräumt. In İzmir erhielten sieben Cemevis den Status einer Kultstätte. In Istanbul wurden kostenlose kommunale Dienst leistungen wie den anderen Religionsgemeinschaften auch den Gebetshäusern der Aleviten zugestanden (USDOS 12.5.2021). Der Stadtrat von Istanbul hat im September 2024 Cemevis (und Gebetsstätten anderer Religionen) als Teil der Verantwortlichkeiten der zuständigen Abtei lung der Stadtverwaltung offiziell anerkannt, trotz der Gegnerschaft seitens der AKP-Fraktion in der Stadtvertretung (Duvar 13.9.2024; vgl. USCIRF 3.2025, S. 67). Die Regierung hat den Aktionsplan betreffend die Entscheidungen des EGMR über Cem-Häu ser und obligatorischen Religionsunterricht, der 2016 dem Ministerkomitee des Europarates vorgelegt worden war, bis heute nicht umgesetzt (ÖB Ankara 4.2025, S.37; vgl. AA 20.5.2024, S. 11). Andere Urteile des EGMR, wonach nur alevitische Führer über die Religionszugehörig keit ihrer Gemeinschaft entscheiden dürfen und dass alevitische Schüler vom obligatorischen Religionsunterricht durch sunnitische Imame befreit werden sollten, wurden laut Vertretern der alevitischen Gemeinschaft nicht umgesetzt (DFAT 16.5.2025, S. 16). Durch das Präsidialdekret Nr. 112 (vom 9.11.2022) wurde ein Präsidium für Alevitische Kul tur und Gebetshäuser im Ministerium für Kultur und Tourismus eingerichtet, das u.a. für die Koordinierung der effektiven und effizienten Durchführung von Dienstleistungen in Cemevleri zuständig ist. Parallel dazu wurde Gesetz Nr. 7421 (vom 8.11.2022) vom Parlament beschlossen, durch welches die Errichtung, Instandhaltung und Reparatur von Cemevleri durch Gemeinden übernommen werden können und die Kosten für Beleuchtung der Cemevleri vom Ministerium für Kultur und Tourismus übernommen werden. Dagegen wurde von zahlreichen alevitischen Ver bänden und CHP- und HDP-Abgeordneten protestiert. Hauptkritikpunkt ist, dass die alevitische 237
