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Dieses Dokument ist Teil der Anfrage „Länderinformationsblätter“
vgl. Duvar 26.12.2022). Vor dem Hintergrund des Gazakrieges wurde im Oktober 2023 15 Par lamentariern der pro-kurdischen Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker - HEDEP [mit abgeänderter Abkürzung inzwischen DEM-Partei als Vorgängerin der HDP bzw. der Grünen Linkspartei] trotz parlamentarischer Immunität die Ausreise verweigert (Duvar 20.10.2023). Im Juni 2024 zogen die Behörden die Pässe von neun Ko-Bürgermeistern aus Gemeinden mit kurdischer Mehrheit ein, darunter die Bürgermeisterin von Diyarbakır Serra Bucak, ohne dass ein Gerichtsbeschluss vorlag. Das Innenministerium verteidigte den Schritt mit dem Hin weis auf die nationale Sicherheit und die öffentliche Ordnung (Medya 24.6.2024; vgl. Rudaw 24.6.2024). Im Februar 2025 untersagte ein Istanbuler Gericht zwei leitenden Funktionären des Wirtschaftsverbands TUSIAD im Rahmen einer Untersuchung ihrer Äußerungen zur Demokratie, die Erdogan als Untergrabung der Regierung bezeichnet hatte, die Ausreise ins Ausland. Auf der Generalversammlung der Organisation hatten TUSIAD-Präsident Orhan Turan und Omer Aras, der Vorsitzende der türkischen Bankensparte der QNB, das harte Vorgehen der Regierung gegen Oppositionelle und Journalisten kritisiert (REU 20.2.2025). Drei Monate später wurde die Ausreisesperre aufgehoben. Das Verfahren lief hingegen weiter, wobei der Staatsanwalt bis zu fünf Jahren Haft forderte (HDN 20.5.2025; vgl. Bianet 22.5.2025). Das Recht zur Ausreise wiederum darf durch eine richterliche Entscheidung im Rahmen einer strafrechtlichen Ermittlung oder Verfolgung eingeschränkt werden. Die Strafrichter machen von den Einschränkungsmöglichkeiten großzügig Gebrauch. Es ist gang und gäbe, dass insbeson dere Personen mit Auslandsbezug, welche sich nicht in Untersuchungshaft befinden, mit einer parallel zum Ermittlungsverfahren unter Umständen mehrere Jahre dauernden Ausreisesperre belegt werden. Hunderte EU-Bürger, darunter viele Österreicher, sind von dieser Maßnahme ebenso betroffen wie Tausende türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in einem EU-Mitglied staat. Umgekehrt wird über nicht türkische Staatsangehörige, die mit der türkischen Strafjustiz in Kontakt gekommen sind oder deren Aktivitäten außerhalb der Türkei als negativ wahrgenommen wurden, eine Einreisesperre verhängt (ÖB Ankara 4.2025, S. 14f.). Das deutsche Auswärtige Amt, antwortend auf eine parlamentarische Anfrage, gab im Juni 2022 an, dass 104 Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit an der Ausreise gehindert wurden. 55 hätten sich wegen „Terror“-Vorwürfen in Haft befunden, und gegen 49 weitere wäre eine Ausreisesperre verhängt worden (FR 11.6.2022). Mindestens 65 deutsche Staatsbürger konnten mit Stand November 2023 die Türkei aufgrund von Ausreisesperren nicht verlassen, die Hälfte wegen Terrorvorwürfen (Zeit Online 16.11.2023). Mitunter wird ein Ausreiseverbot ausgesprochen, ohne dass die betreffende Person davon weiß. In diesem Fall erfährt sie es erst bei der Passkontrolle zum Zeitpunkt der Ausreise, woraufhin höchstwahrscheinlich ein Verhör folgt. So wie z. B. Strafverfahren und Strafen werden auch Aus reiseverbote im sog. Allgemeinen Informationssammlungssystem (Genel Bilgi Toplama Sistemi - GBT) erfasst. Die Justizbehörden und der Sicherheitsapparat, einschließlich Polizei und Gen darmerie, haben Zugriff auf das GBT. Wenn ein Zollbeamter am Flughafen die Identitätsnummer der betreffenden Person in das GBT eingibt, wird ersichtlich, dass das Gericht ein Ausreiseverbot verhängt hat. Unklar ist hingegen, ob ein Ausreiseverbot auch im sog. Nationalen Justizinforma tionssystem (Ulusal Yargi Ağı Bilişim Sistemi - UYAP) und im e-Devlet (e-Government-Portal) 314

aufscheint und somit dem Betroffenen bzw. seinem Anwalt zugänglich und offenkundig wäre. Die Polizei und die Gendarmerie können eine Person auch auf andere Weise daran hindern, das Land legal zu verlassen, indem sie in der internen Datenbank, genannt PolNet, ohne Wissen eines Richters einschlägige Anmerkungen zur betreffenden Person einfügen. Solche Notizen können den Zoll darauf aufmerksam machen, dass die betreffende Person das Land nicht ver lassen darf. Auf diese Weise kann eine Person an einem Flughafen angehalten werden, ohne dass ein Ausreiseverbot im GBT registriert wird (MBZ 18.3.2021, S. 27f). Die Regierung beschränkt weiterhin Auslandsreisen von Bürgern, die unter Terrorverdacht ste hen oder denen Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zum gescheiterten Putschversuch 2016 vorgeworfen werden. Das gilt auch für deren Familienangehörige. Medienschaffende, Men schenrechtsverteidiger und andere, die mit politisch motivierten Anklagen konfrontiert sind. Sie werden oft unter „ gerichtliche Kontrolle“ gestellt, bis das Ergebnis ihres Prozesses vorliegt. Dies beinhaltet häufig ein Verbot, das Land zu verlassen. Die Behörden hindern auch einige türkische Doppel-Staatsbürger aufgrund eines Terrorismusverdachts daran, das Land zu verlassen, was dazu führt, dass manche das Land illegal verlassen. Ausgangssperren, die von den lokalen Behörden als Reaktion auf die militärischen Operationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verhängt wurden, und die militärische Operation des Landes in Nordsyrien schränkten die Bewegungsfreiheit ebenfalls ein (USDOS 22.4.2024, S. 42f.). Urteile des Verfassungsgerichtes im Sinne der Bewegungsfreiheit Das türkische Verfassungsgericht hob Ende Juli 2019 eine umstrittene Verordnung auf, die nach dem Putschversuch eingeführt worden war und mit der die türkischen Behörden auch die Pässe von Ehepartnern von Verdächtigen für ungültig erklären konnten, auch wenn keinerlei Anschuldigungen oder Beweise für eine Straftat vorlagen. Die Praxis war auf breite Kritik ge stoßen und als Beispiel für eine kollektive Bestrafung und Verletzung der Bewegungsfreiheit angeführt worden (TM 26.7.2019). Das Verfassungsgericht entschied überdies Ende Jänner 2022, dass die massenhafte Annullierung der Pässe von Staatsbediensteten nach dem geschei terten Putschversuch 2016 rechtswidrig war. Das Gericht stellte fest, dass einige Regelungen des Notstandsdekrets Nr. 7086 vom 6.2.2018 verfassungswidrig sind, unter anderem mit der Begründung, wonach die Vorschriften, die vorsehen, dass die Pässe der aus dem öffentlichen Dienst Entlassenen eingezogen werden, die Reisefreiheit des Einzelnen über das Maß hinaus einschränken, welches die Situation des Notstandes erfordern würde. Überdies wurde dem Verfassungsgericht nach das durch die Verfassung garantierte Recht der Unschuldsvermutung verletzt (Duvar 29.1.2022). Im Frühjahr 2024 erklärte das Verfassungsgericht, dass das gegen die Menschenrechtsaktivistin Nurcan Kaya verhängte internationale Reiseverbot ihre Meinungsfreiheit verletze. Nurcan Kaya wurde am Istanbuler Flughafen im Oktober 2019 festgenommen, als sie versuchte, an einer Sitzung der Vereinten Nationen teilzunehmen. Kaya wurde im Rahmen einer Untersuchung in haftiert unter der Anschuldigung „ Hass und Feindschaft unter den Menschen zu schüren“, nach dem sie 2014 in einem Tweet geschrieben hatte: „ Nicht nur die Kurden, sondern alle in Kobanê 315

lebenden Völker leisten Widerstand.“ Während ihres Prozesses unterlag Kaya einer 1,5-mona tigen gerichtlichen Kontrolle, die ein internationales Reiseverbot und die Beschlagnahme ihres Reisepasses beinhaltete. - Das Verfassungsgericht erkannte an, dass die gerichtlichen Maß nahmen Kayas Fähigkeit zur Teilnahme am öffentlichen Diskurs beeinträchtigten, und sprach Kaya 13.500 Lira (ca. 390 Euro) als immateriellen Schadenersatz zu. Darüber hinaus kritisierte das Verfassungsgericht die Justiz dafür, dass sie vor der Verhängung des Reiseverbots keine weniger restriktiven Maßnahmen in Betracht gezogen und Berufungen gegen das Verbot aus „ abstrakten Gründen“ abgelehnt hatte (Duvar 7.3.2024; vgl. MLSA 6.3.2024). Im November 2024 erklärte das Verfassungsgericht die Bestimmung im Passgesetz für nichtig, welche die Ausstellung von Reisepässen an Personen untersagte, die vom Innenministerium als ein allgemeines Sicherheitsrisiko angesehen wurden, wenn sie das Land verließen. Das Verfassungsgericht stellte fest, dass die fragliche gesetzliche Einschränkung nicht allgemeiner Natur war, sondern sich vielmehr gegen bestimmte Personen richtete. Es betonte, dass das Recht, das Land zu verlassen, gemäß Artikel 23 der Verfassung nur aufgrund strafrechtlicher Er mittlungen oder Strafverfolgung eingeschränkt werden kann. Das Verfassungsgericht entschied, dass die Entscheidung über diese Angelegenheit durch Verwaltungsbehörden einen Verstoß darstellt. Das Gericht befand, dass die Bestimmung das verfassungsmäßige Recht auf Freizü gigkeit in einer Weise einschränkt, die nicht mit den in der Verfassung dargelegten Gründen für eine Einschränkung vereinbar ist. Folglich erklärte es die Gesetzesklausel für nichtig, die Personen, die vom Innenministerium als Sicherheitsrisiken eingestuft wurden, die Ausstellung von Reisepässen verweigerte (Bianet 21.11.2024; vgl. TM 21.11.2024). Quellen ■ AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (20.5.2024): Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und ab schiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei (Stand: Januar 2024), https://www.ecoi.net/en/file /local/2110308/Auswärtiges_Amt,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_ der_Republik_Türkei,_20.05.2024.pdf, Zugriff 27.6.2024 [Login erforderlich] ■ Bianet - Bianet (22.5.2025): TÜSİAD executives face up to 5 years in prison, https://bianet.org/hab er/tusiad-executives-face-up-to-5-years-in-prison-307609 , Zugriff 10.6.2025 ■ Bianet - Bianet (21.11.2024): Top court rules denying citizens passport unconstitutional, https://bian et.org/haber/top-court-rules-denying-citizens-passport-unconstitutional-302032 , Zugriff 26.11.2024 ■ Duvar - Duvar (7.3.2024): Turkeys top court rules international travel ban violation of freedom of expression, https://www.duvarenglish.com/turkeys-top-court-rules-international-travel-ban-violation -of-freedom-of-expression-news-63958 , Zugriff 16.9.2024 ■ Duvar - Duvar (20.10.2023): 15 MPs, deputy speaker of Turkish Parliament banned from traveling abroad, https://www.duvarenglish.com/15-mps-deputy-speaker-of-turkish-parliament-banned-fro m-traveling-abroad-news-63183 , Zugriff 18.1.2024 ■ Duvar - Duvar (26.12.2022): International travel ban imposed on HDP MP, https://www.duvarengli sh.com/international-travel-ban-imposed-on-hdp-mp-news-61648 , Zugriff 18.1.2024 ■ Duvar - Duvar (10.3.2022): HDP MP Gergerlioğlu files objection against int’l travel ban, seizure of passport, https://www.duvarenglish.com/hdp-mp-omer-faruk-gergerlioglu-files-objection-against-int l-travel-ban-seizure-of-passport-news-60577 , Zugriff 18.1.2024 ■ Duvar - Duvar (29.1.2022): Turkey’s top court rules passport cancellation for sacked civil servants unconstitutional, https://www.duvarenglish.com/turkeys-top-court-rules-passport-cancellation-for-s acked-civil-servants-unconstitutional-news-60256 , Zugriff 18.1.2024 ■ FH - Freedom House (26.2.2025): Freedom in the World 2025 - Turkey, https://www.ecoi.net/de/do kument/2125459.html, Zugriff 20.5.2025 316

■ FR - Frankfurter Rundschau (11.6.2022): Gefangen in der Türkei: Mehr als 100 Deutsche dürfen nicht ausreisen, https://www.fr.de/politik/gefangen-erdogan-tuerkei-viele-deutsche-duerfen-nicht-z urueck-deutschland-pkk-91604026.html , Zugriff 18.1.2024 ■ HDN - Hürriyet Daily News (20.5.2025): Court lifts travel ban on senior TÜSİAD officials, https: //www.hurriyetdailynews.com/top-tusiad-officials-stand-trial-over-remarks-209398 , Zugriff 10.6.2025 ■ MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (2.2025a): Algemeen ambtsbericht Turkije, https://www.ecoi.net/de/dokument/2122226.html, Zugriff 13.3.2025 ■ MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (2.3.2022): General Country of Origin In formation Report Turkey, https://www.ecoi.net/en/file/local/2078792/general-country-of-origin-infor mation-report-turkey-march-2022.pdf , Zugriff 2.10.2023 ■ MBZ - Außenministerium der Niederlande [Niederlande] (18.3.2021): General Country of Origin Information Report Turkey, https://www.government.nl/binaries/government/documents/reports/ 2021/03/18/general-country-of-origin-information-report-turkey/vertaling-aab-turkije.pdf , Zugriff 27.9.2023 [Login erforderlich] ■ Medya - MedyaNews (24.6.2024): Turkish authorities impose travel bans on Kurdish co-mayors, https://medyanews.net/turkish-authorities-impose-travel-bans-on-kurdish-co-mayors , Zugriff 4.7.2024 ■ Medya - MedyaNews (26.12.2022): Turkey imposes travel ban on Kurdish-Alevi lawmaker, https: //medyanews.net/turkey-imposes-travel-ban-on-kurdish-alevi-lawmaker/ , Zugriff 18.1.2024 ■ MLSA - Media and Law Studies Association (6.3.2024): Turkey’s Constitutional Court declares travel ban a violation of freedom of speech in landmark ruling, https://mlsaturkey.com/en/turkeys-const itutional-court-declares-travel-ban-a-violation-of-freedom-of-speech-in-landmark-ruling , Zugriff 16.9.2024 ■ ÖB Ankara - Österreichische Botschaft Ankara [Österreich] (4.2025): Asylländerbericht 2024 – ÖB An kara, https://www.ecoi.net/en/file/local/2125282/TUER_ÖB Bericht_2025_04.pdf, Zugriff 13.5.2025 ■ REU - Reuters (20.2.2025): Erdogan’s fight with Turkish business stirs economic concern, https: //www.reuters.com/world/middle-east/turkey-bans-travel-by-two-executives-top-business-group-p robe-2025-02-20 , Zugriff 10.6.2025 ■ Rudaw - Rudaw Media Network (24.6.2024): Turkey imposes travel ban on pro-Kurdish mayors without court order: DEM Party official, https://www.rudaw.net/english/middleeast/turkey/24062024, Zugriff 4.7.2024 ■ TM - Turkish Minute (21.11.2024): Turkeys top court strikes down law restricting passports over security concerns - Turkish Minute, https://www.turkishminute.com/2024/11/21/turkeys-top-court-str ikes-down-law-restricting-passports-over-security-concerns , Zugriff 26.11.2024 ■ TM - Turkish Minute (26.7.2019): Top court cancels regulation used to revoke passports of suspects’ spouses, https://www.turkishminute.com/2019/07/26/top-court-cancels-regulation-used-to-revok e-passports-of-suspects-spouses/ , Zugriff 18.1.2024 ■ USDOS - United States Department of State [USA] (22.4.2024): Country Report on Human Rights Practices 2023 – Turkey (Türkiye), https://www.state.gov/wp-content/uploads/2024/02/528267_TU ̈RKIYE-2023-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf , Zugriff 23.4.2024 [Login erforderlich] ■ Zeit Online - Zeit Online (16.11.2023): Ausreiseverbot: Mindestens 65 deutsche Staatsbürger dürfen die Türkei nicht verlassen, https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-11/tuerkei-deutsche-ausreisev erbot-terrorverdacht-erdogan-besuch-deutschland , Zugriff 18.1.2024 21 Flüchtlinge Letzte Änderung 2025-08-06 13:32 Varianten des Flüchtlingsstatus Das türkische Asylsystem unterscheidet vier Kategorien von Flüchtlingen: Die erste basiert auf der Definition der Genfer Flüchtlingskonvention (mit einer geografischen Einschränkung), die zweite auf dem bedingten (sekundären) Flüchtlingsstatus, die dritte auf dem subsidiären Schutz und die vierte auf dem temporären (auch: „ vorübergehend“ genannten) Schutz (ACCORD 8.2020; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S.60, MBZ 2.2025a, S. 95). Es bestehen mehrere gesetzliche 317

Bestimmungen, die den Flüchtlingsstatus regeln. Das 2013 verabschiedete Gesetz für Ausländer und internationalen Schutz definiert zunächst drei Kategorien von Flüchtlingen: Jene Flüchtlin ge, die unter die Genfer Konvention von 1951 fallen (Artikel 61). Hierzu zählen ausschließlich Staatsbürger von Staaten, die Mitglieder des Europarates sind. Ihnen steht nebst den Rechten auf der Basis der Genfer Konvention auch die Aussicht auf eine dauerhafte legale Integration in der Türkei zu. Außereuropäischen Flüchtlingen kann der Status eines sog. „ bedingten Flücht lings“ gewährt werden (Artikel 62). Ihnen wird eine kostenlose Gesundheitsversorgung und Bildung zuteil (AIDA 3.2018; vgl. ÖB Ankara 4.2025, S.60, MBZ 2.2025a, S. 95, ZAR 5.2013, S. 16f.). Allerdings ist der Wohnort nicht frei wählbar, ein Familiennachzug nicht möglich und eine dauerhafte Integration nicht vorgesehen (AIDA 28.5.2021, S. 125). Personen, die keine Voraussetzungen für einen der beiden Status mit sich bringen, denen aber bei einer Rückkehr im Herkunftsland die Todesstrafe oder Folter drohen würde, oder die aufgrund von Kriegssi tuationen oder internen bewaffneten Konflikten einem „ individuellen Risiko willkürlicher Gewalt“ ausgesetzt sind, können den subsidiären Schutzstatus erhalten (Artikel 63) (ZAR 5.2013, S. 17). Der türkische Rechtsstatus des subsidiären Schutzes spiegelt die Definition des subsi diären Schutzes in der EU-Richtlinie wider. Zwar ist eine langfristige Integration ausgeschlossen, doch haben subsidiär Schutzberechtigte ein Recht auf Familiennachzug. Flüchtlingen mit einem bedingten Status und Personen mit subsidiärem Schutzstatus werden keine Konventionsreise ausweise ausgestellt, sondern es kann ihnen eine andere Art von Reisedokument ausgestellt werden, versehen mit einem Stempel „ alleinig für Ausländer“. Die Entscheidung liegt im Er messen der Presidency of Migration Management (PMM), folglich besteht kein Rechtsanspruch (AIDA 28.5.2021, S. 20, 125, 133). Am 22.10.2014 wurde eine gesonderte Flüchtlingskategorie, nämlich jene der „ temporär Schutzbedürftigen“ für Flüchtlinge aus Syrien eingeführt. Der Status gewährt den Begüns tigten ein legales Aufenthaltsrecht sowie einen gewissen Zugang zu grundlegenden Rechten und Dienstleistungen. Der temporäre Schutzstatus wird syrischen Staatsangehörigen und staatenlosen Palästinensern, die aus Syrien stammen, auf prima facie Gruppenbasis gewährt. Der Status wird auf Ausländer angewendet, die gezwungen waren, ihr Land zu verlassen; nicht in das Land zurückkehren können, das sie verlassen haben; massenhaft oder einzeln an der türkischen Grenze angekommen sind oder diese überschritten haben; und deren in ternationales Schutzbedürfnis nicht im Rahmen eines individuellen Verfahrens entschieden wird. Diejenigen, die über ein Drittland kommen, sind jedoch vom temporären Schutzstatus ausgeschlossen. In der Praxis ist es ihnen nicht erlaubt, einen Antrag zu stellen, und sie erhalten nur ein kurzfristiges Visum und anschließend eine kurzfristige Aufenthaltserlaubnis. Dies gilt auch für syrische Staatsangehörige, die möglicherweise über ein anderes Land einreisen, selbst wenn ihre Familienangehörigen in der Türkei bereits vom temporären Schutzstatus profitieren (AIDA 28.5.2021, S. 70f.). Die im April 2016 eingeführte Änderung der „ Verordnung über den vorübergehenden Schutz“ sieht zudem vor, dass auch syrische Staatsangehörige, welche nach dem 28.4.2011 in die Türkei eingereist und danach illegal auf die ägäischen Inseln eingereist sind, in der Türkei wieder einen temporären Schutzstatus erhalten können (AIDA 28.5.2021, S. 142; vgl. RRT 3.2017). Der Erklärung der EU und der Türkei zufolge kann Inhabern des Status des temporären Schutzes, die illegal nach Griechenland eingereist sind und wieder in 318

die Türkei zurückgeschickt wurden, derselbe Status wieder zuerkannt werden. Eine Quelle der Dänischen Migrationsbehörde (DIS) gab hingegen an, dass einem Inhaber des temporären Schutzes bei illegaler Ausreise aus der Türkei und beim Aufgriff an der Grenze in solchen Fällen der Status entzogen wird (DIS 6.10.2023, S. 41). Die Rückführung von irregulären Migranten von den griechischen Inseln wurde nicht wieder aufgenommen. Die EU hat die Türkei wiederholt aufgefordert, die Rückführungsmaßnahmen im Einklang mit den in der Erklärung EU-Türkei von 2016 eingegangenen Verpflichtungen wieder aufzunehmen. Die Neuansiedlung syrischer Flüchtlinge aus der Türkei in den EU-Mitgliedstaaten wurde im Berichtszeitraum fortgesetzt und belief sich bis zum 31.8.2024 auf insgesamt 43.019 Personen (EC 30.10.2024, S. 23). Nebst den (vier) angeführten Flüchtlingskategorien besteht noch die Aufenthaltserlaubnis auf der Grundlage des humanitären Bleiberechts (humanitarian residence permit). Dabei handelt es sich nicht um einen Schutzstatus, sondern um eine von sechs Kategorien der Aufenthalts erlaubnis für Ausländer. Allerdings ist der Zugang zu staatlichen Dienstleistungen beschränkt. Zwar ist die Gesundheitsversorgung für Menschen, denen diese Form des Bleiberechts zuge sprochen wird, gratis, aber nicht die Kosten für Medikamente. Im Unterschied zu Personen, die unter internationalen Schutz fallen, dürfen jene mit einem humanitären Bleiberecht frei ihren Wohnort wählen (CoE-CommDH 10.8.2016). Flüchtlingszahlen Ende 2023 lebten in der Türkei 3,4 Millionen Flüchtlinge und Asylsuchende, davon kam ein Großteil der Flüchtlinge und Asylsuchenden (3,2 Mio) aus Syrien. Über 200.000 Flüchtlinge und Asylsuchende waren anderer Nationalitäten, hauptsächlich aus Afghanistan, dem Irak und Iran (UNO-FH 2024; vgl. AIDA 20.8.2024a). Die offizielle Zahl der syrischen Staatsbürger, welche als temporäre Flüchtlinge registriert sind, ging seit 2021 kontinuierlich zurück. Waren es 2021 noch 3,737 Mio., zählte die türkische Migrationsbehörde mit Stand 19.6.2025 noch 2,678 Mio. Die meisten lebten in Istanbul (ca. 465.600), Gaziantep (ca. 373.600), Şanlıurfa (ca. 234.700) und Adana (ca. 198.700) (PMM 19.6.2025a). Rechnet man die irregulären Einwanderer hinzu, ist die tatsächliche Zahl viel höher (Economist 12.9.2024). Offiziell betrug die Zahl der irre gulären Migranten mit Stand 19.6.2025 rund 67.800Personen, hiervon rund 20.300 Afghanen und rund 9.400 Syrer (PMM 19.6.2025b). Hinzukamen (Stand: 19.6.2025) bei den Syrern noch rund 75.400 Syrer mit einem langfristigen Aufenthaltsstatus, 51.600 mit einer kurzfristigen Auf enthaltserlaubnis, 6.600 mit einem Familienaufenthaltstitel und rund 6.700 syrische Studenten (PMM 19.6.2025c). Registrierung Um einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, müssen potenzielle Antragsteller sich an eine der Provincial Directorates of Migration Management (PDMM) wenden, um ihren Antrag zu registrieren. Wenn die PDMM den Antrag nicht selbst registrieren kann, weist sie den Antrag steller an, sich innerhalb von 15 Tagen in einer anderen Provinz zu melden, wo er sich aufhalten und den Antrag registrieren muss. Die Praxis ist nicht standardisiert, und oft wird die Registrie rung durch die PDMM abgelehnt, ohne dass die Personen an eine andere PDMM verwiesen 319

werden. Wenn sie an eine andere Provinz verwiesen werden, erhalten die potenziellen Antrag steller keinen Nachweis über ihre Absicht, Asyl zu beantragen, was ein Problem darstellen kann, wenn sie auf dem Weg in die verwiesene Provinz von der Polizei kontrolliert werden, da sie als irreguläre Migranten behandelt und in eine Abschiebehaftanstalt überstellt werden könnten. Ein Antragsteller auf internationalen Schutz hat das Recht, während des gesamten Asylverfah rens im Hoheitsgebiet zu bleiben, wobei Ausnahmen aus Gründen der „ öffentlichen Sicherheit“, der „ öffentlichen Gesundheit“ und der „ Zugehörigkeit zu einer terroristischen oder kriminellen Vereinigung“ gelten (ECRE/AIDA 20.8.2024b; vgl. UNHCR o.D.). Anträge auf internationalen Schutz werden in 81 Provinzen entgegengenommen, während ein dauerhafter Aufenthalt in einigen Städten gesetzlich nicht gestattet ist. In diesem Falle erfolgt eine Zuweisung in eine andere Provinz. Anträge auf internationalen Schutz können nicht von einem Rechtsanwalt oder Rechtsvertreter gestellt werden. Ein Antragsteller kann jedoch auch internationalen Schutz für begleitende Familienangehörige beantragen, deren Anträge auf denselben Gründen beruhen (UNHCR o.D.). Gesundheitsversorgung Die Türkei hat erhebliche Anstrengungen unternommen, um Flüchtlinge zu unterstützen und einen breiteren Zugang zu Gesundheitsversorgung zu gewährleisten, auch wenn der Zugang durch Registrierungsbeschränkungen behindert wird. Flüchtlinge (hauptsächlich Syrer unter temporärem Schutz) profitieren weiterhin von kostenlosen Gesundheitsdiensten, die in 179 Ge sundheitszentren für Migranten, 14 Container-Gesundheitsstationen und in Krankenhäusern angeboten werden. Die Kapazitäten der Dienste für psychische Gesundheit und psychosozia le Unterstützung, der Dienste für reproduktive Gesundheit, der mobilen Gesundheitsdienste und der Gesundheitskompetenz von Flüchtlingen wurden verbessert (EC 30.10.2024, S. 23; vgl. AA 20.5.2024, S. 19. In der Praxis sind einige Medikamente und medizinische Verfah ren nicht abgedeckt. Die Regierung hat Gebühren für Untersuchungen wie MRT-Scans und Röntgenaufnahmen eingeführt. Es gibt eine Liste von Medikamenten, die von der Regierung subventioniert werden. Medikamente und medizinische Geräte, die nicht auf der Liste stehen, können sowohl für Flüchtlinge als auch für türkische Staatsbürger schwer zugänglich sein (DIS 6.10.2023, S. 29). Arbeitsmarkt Rechtlich steht Flüchtlingen auf Antrag auch der Zugang zum Arbeitsmarkt offen (AA 20.5.2024, S. 19). So können Ausländer, denen ein temporärer Schutzstatus gewährt wird (Syrer und Syrerinnen) sechs Monate nach Ausstellung des vorübergehenden Schutzausweises eine Ar beitserlaubnis beantragen (PMM o.D.), sofern sie auch in der Provinz, in der sie arbeiten wollen, mindestens die letzten sechs Monate registriert waren (CoE-ECSR 3.2024). Im Oktober 2024 erfolgten neue Regulativa, denen zufolge Flüchtlinge und andere Personen, die in der Türkei vorübergehend Schutz genießen, für bestimmte Zeiträume von der Erteilung einer Arbeitser laubnis befreit sind. Die Ausnahmen gelten für Personen, die im Rahmen des Systems für die Beantragung, Bewertung und Überwachung von Ausländern registriert sind, wobei das Innen ministerium den Umfang und die Dauer dieser Genehmigungen überwacht. Hintergrund: Die 320

gesetzlich eingeführten Erleichterungen bezüglich der Anforderungen an die Arbeitserlaubnis für Flüchtlinge und ausländische Staatsangehörige dienen der Linderung des Arbeitskräftemangels vor allem in Schlüsselsektoren der Wirtschaft (TR-Today 16.10.2024; vgl. BuS 18.10.2024). Der tatsächliche Zugang von Flüchtlingen und Asylbewerbern zum Arbeitsmarkt, insbesondere zu formeller Beschäftigung, bleibt schwierig (EC 30.10.2024, S. 23). So sollen etwa eine Million Syrer informell arbeiten, da ihnen bürokratische Hindernisse den Zugang zum türkischen Ar beitsmarkt erschweren (DIS 6.10.2023, S. 1; vgl. CoE-ECSR 3.2024). Infolgedessen bleibt der überwiegenden Mehrheit der bedingten Flüchtlinge und derjenigen, die unter vorübergehendem Schutz stehen, die Möglichkeit einer legalen Beschäftigung verwehrt, wodurch sie anfällig für Ausbeutung, einschließlich Menschenhandel sind (CoE-ECSR 3.2024). Laut einer Studie der Universität Ankara sahen sich 25,2 % der Syrer als „ regelmäßig arbeitend“, was einen Rückgang um fast die Hälfte zum Vergleichswert im Jahr 2019 (50,2 %) bedeutete. Waren 2019 nur knapp ein Drittel (33,6 %) laut Befragung Taglöhner, so stieg 2023 dieser Anteil auf 52,2% (MÜGAM/ UNHCR 8.2024; S. 181). - Die Konkurrenz zwischen wirtschaftlich schwachen Gruppen der einheimischen Bevölkerung und den Neuankömmlingen auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt führt teilweise zu sozialen Spannungen (AA 20.5.2024, S. 20). Kinderarbeit, frühe Zwangsverheiratung und Polygamie Eine ernsthafte Zunahme der Kinderarbeit und frühe Zwangsverheiratung bleiben ebenfalls ein großes Problem unter den Flüchtlingen, insbesondere unter den Syrern (DIS 6.10.2023, S. 64; vgl. USDOS 22.4.2024, S. 48) und vor allem angesichts der sich verschlechternden wirtschaftlichen Lage und den Folgen des Erdbebens (USDOS 22.4.2024, S. 48). Hinzukommt, dass in einigen Fällen syrischen Frauen ihr Überleben durch Sexarbeit sichern müssen (DIS 6.10.2023, S. 64). Von den Syrern und Syrerinnen, beispielsweise, hat die Hälfte nie eine Schule besucht oder kann nicht lesen und schreiben. Nach Angaben des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen leben mehr als 70 % der syrischen Flüchtlinge in Armut (AsiaTimes 3.1.2022). Das Europäische Parlament „ fordert[e] die Regierung der Türkei auf, den Zugang syrischer Flüchtlinge zum Arbeitsmarkt zu verbessern und Maßnahmen zu ergreifen, damit das Risiko der Staatenlosigkeit für eine Generation syrischer Kinder, die in der Türkei geboren sind, nicht eintritt“ (EP 7.6.2022 S. 22, Pt. 36). Denn etwa 1,6 Millionen Syrer in der Türkei sind minderjährig, und schätzungsweise 750.000 von ihnen wurden dort geboren. Die überwiegende Mehrheit von ihnen ist staatenlos (FP 26.3.2023). Neben Gewalt ist der Schutz von Frauen und Mädchen unter 18 Jahren, die in arrangierte Ehen und inoffizielle polygame Ehen verwickelt sind – darunter „ Zweitfrauen“ und Mädchen, die von ihren Familien verkauft wurden – ein anhaltendes Problem. Diese Probleme haben auch zu einem Anstieg der Scheidungsrate bei Mädchen unter 18 Jahren beigetragen. Die Rate von Frühehen und/oder Zwangsehen, sexueller Gewalt, Polygamie, ungewollten Schwangerschaf ten, unsicheren Geburten und Müttersterblichkeit ist unter syrischen Flüchtlingen deutlich höher als unter türkischen Frauen. Da der Status der zweiten Ehefrau im türkischen Zivilrecht nicht anerkannt ist, haben sie im Falle von Missbrauch und Gewalt Schwierigkeiten, ihre gesetzlichen Rechte geltend zu machen (ECRE/AIDA 20.8.2024a). 321

Örtliche Begrenzung des Ausländeranteils an der Wohnbevölkerung Seit Mai 2022 ist es gesetzlich verboten, dass in einer Region oder einem Gebiet der Tür kei mehr als ein Viertel der Gesamtbevölkerung aus Ausländern besteht (AIDA 27.2.2023). - Bereits im Juni 2022 wurde der Prozentsatz auf 20 % herabgesetzt (EC 8.11.2023, S. 55). - Dies umfasst sowohl Personen, die ihren ständigen Wohnsitz in der Türkei haben, als auch diejenigen, die das Land nur besuchen. Stadtteile in verschiedenen Provinzen sind nun für ausländische Staatsangehörige gesperrt, die sich im Rahmen des vorübergehenden Schutzes, des internationalen Schutzes und der Aufenthaltsgenehmigung ummelden oder ihren Wohnort wechseln wollen, wenn sie Ausländer mit Aufenthaltsgenehmigung sind oder vorübergehenden oder internationalen Schutz genießen, mit Ausnahme von Neugeborenen und Fällen der Kern familienzusammenführung. Adana, Ankara, İstanbul, İzmir, Muğla und Antalya sind einige der Städte, die in diese Kategorie fallen (AIDA 27.2.2023; vgl. HRW 24.10.2022, EC 8.11.2023). Personen, die nicht bei den Behörden gemeldet sind, riskieren die Abschiebung in ihr Herkunfts land. Allerdings wird der sogenannte „ Seyreltme Planı“ (Verdünnungsplan) zur Absenkung des Ausländeranteiles auf 20 % nicht geordnet umgesetzt. Inzwischen sind sog. „ mobile Kontroll punkte“ etabliert worden, an denen Regierungsbeamte die Papiere von Ausländern an belebten Orten wie Plätzen, U-Bahn- und Busstationen kontrollierten. Nach Angaben des Innenministers gab es bis Anfang Dezember 2024 270 solcher Kontrollpunkte (MBZ 2.2025a, S. 96). Zur Lage der Kinder und minderjährigen Flüchtlinge siehe Relevante Bevölkerungsgruppen / Kinder und minderjährige Jugendliche (bis 18) / Flüchtlingskinder und minderjährige Flüchtlinge. Einstellung und Verhalten der türkischen Bevölkerung und Politik gegenüber den Flücht lingen Seitdem die COVID-19-Pandemie die seit 2018 andauernden wirtschaftlichen Turbulenzen stark erhöht hat, verstärkt sich gleichermaßen die flüchtlingsfeindliche Stimmung in der türkischen Gesellschaft (AlMon 28.7.2021; vgl. TNA 2.9.2022). Dazu trug auch ein Teil der politischen Opposition bei, die im Zuge des Wahlkampfes für die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2023 die Regierung in schärfen Tonen wegen deren Migrationspolitik angriff (ÖB Ankara 4.2025, S. 5). Studien zeigen, dass die Darstellung von Flüchtlingen und Migranten in der Medienberichterstattung oft voreingenommene und diskriminierende Narrative enthält, die auf vielfältige Weise zur Verbreitung von Desinformation beitragen (AIDA 20.8.2024b). In den letzten Jahren zeigten empirische Studien, dass sich eine deutliche Mehrheit der Türken für eine Rückkehr der Flüchtlinge aussprach. - 2023, im Vorfeld der Wahlen, war die Flüchtlings problematik laut Umfrage von „ Syrians Barometer“ hinter der Wirtschaftslage schon an zweiter Stelle. 88,5 % der Türken wollten eine Rückkehr der syrischen Flüchtlinge (DW 20.4.2023). Immer wieder werden Flüchtlinge/Migranten Opfer gewaltsamer Angriffe (ÖB Ankara 4.2025, S.5), vereinzelt auch mit Todesfolge (SCF 6.2023; vgl. Conversation 2.11.2020). Rassismus und Feindseligkeiten gegenüber syrischen Flüchtlingen wurde auch angesichts des Erdbebens im Februar 2023 immer lauter, obwohl man davon ausging, dass viele von ihnen unter den Opfern des Erdbebens waren. Verschärft wurde die Stimmung durch Kommentare in Medien und nachweislich gefälschte Videos in sozialen Medien, wonach Flüchtlinge an Plünderung 322

beteiligt gewesen sein sollen (AlMon 10.2.2023; vgl. Tagesspiegel 11.2.2023, TM 13.2.2023, MEE 13.2.2023). Zur Eskalation kam es am 30.6.2024 in der Provinz Kayseri in Zentralanatolien. Nachdem ein syrischer Mann eine Minderjährige missbraucht haben soll, gingen Hunderte in mindestens drei Vierteln der Provinz auf die Straße und griffen teilweise Geschäfte und Fahrzeuge von Syrern an. Es gab Bilder, auf denen Bewohner mit Bulldozern Motorräder und Autos und Geschäfte von Syrern in Brand setzen und Häuser mit Steinen bewarfen. Die Polizei setzte Tränengas und Wasserwerfer ein, um die Menge zu zerstreuen, welche „ Wir wollen keine Syrer in unserem Land“ rief. Nebst 67 Festnahmen kam es zu Ermittlungen gegen mehr als 60 Konten in den so zialen Medien wegen der Veröffentlichung provokativer Nachrichten (AlMon 1.7.2024; vgl. MEE 1.7.2024). In den beiden Folgetagen wurden sieben Menschen in Nordsyrien getötet, nachdem bewaffnete Demonstranten mit den türkischen Streitkräften, die das Gebiet kontrollierten, an einandergeraten waren. Die Demonstrationen waren eine Reaktion auf die Ausschreitungen gegen syrische Flüchtlinge in der Türkei am Vortag (Standard 3.7.2024; vgl. AlMon 2.7.2024). Die Proteste weiteten sich in der Nacht vom 1. auf den 2. Juli 2024 fast auf die ganze Türkei aus. Von der syrisch-türkischen Grenze aus, wo in Städten wie Reyhanlı, Urfa, Gaziantep und Kahramanmaraş mittlerweile 30 bis 60 % der Bewohner syrischer Herkunft sind, über Antalya, Hatay und Konya bis in den Istanbuler Stadtteil Sultanbeyli ging ein wütender Mob auf die Stra ße und griff syrische Läden und Fahrzeuge an. Rund 470 Randalierer wurden festgenommen (Standard 3.7.2024; vgl. AlMon 2.7.2024, Evrensel 3.7.2024). Es wurden Slogans wie „ Die Tür kei gehört den Türken, sie wird türkisch bleiben“ und „ Ich will keine Flüchtlinge in meinem Land“ skandiert. In Gaziantep konnten die Syrer am nächsten Tag nach den Angriffen ihre Geschäfte nicht mehr öffnen. Dutzende von syrischen Geschäften wurden geplündert und etliche Videos von geschlagenen Flüchtlingen wurden in den sozialen Medien verbreitet (Evrensel 3.7.2024). Im Juli 2022 vermerkte die UN-Sonderberichterstatterin über Gewalt gegen Frauen, ihre Ur sachen und Folgen, dass syrische Frauen, die unter vorübergehendem Schutz stehen, sowie Flüchtlinge, Migrantinnen und andere Frauen und Mädchen ohne Papiere oder ohne regulä ren Migrationsstatus in der Türkei besonders von geschlechtsspezifischer Gewalt bedroht sind (OHCHR 27.7.2022a, S. 5). Mängel im Asylsystem (Beispiele) Einer der größten Mängel des türkischen Asylrechts ist die fehlende Verpflichtung, Asylwer bern eine staatlich finanzierte Unterkunft zur Verfügung zu stellen. Artikel 95(1) des Gesetzes über Ausländer und Internationalen Schutz (eng. Abk.: LFIP) legt fest, dass Antragsteller auf internationalen Schutz und Personen mit internationalem Schutzstatus in der Regel ihre eigene Unterkunft aus eigenen Mitteln sichern müssen. Weder das LFIP noch die später erlassenen Regularien sehen Pläne vor, Antragstellern auf internationalen Schutz finanzielle Unterstützung zur Deckung der Wohnkosten anzubieten (AIDA 20.8.2024c). Dies führt zu Obdachlosigkeit oder unzureichenden Lebensbedingungen, die ein ernsthaftes Risiko von Diskriminierung und schweren Verstößen darstellen. Der Zugang zu Wohnraum ist nach wie vor äußerst schwierig, u. a. infolge der hohen Mietpreise und Vorauszahlungsforderungen der Eigentümer, was dazu 323
