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Dieses Dokument ist Teil der Anfrage „Länderinformationsblätter“
das Bestreben von ISKP, die Türkei anzugreifen, ist in den letzten zwei Jahren deutlicher gewor den. Der erste offene Hinweis auf die Existenz des ISKP in der Türkei gab es am 22.11.2021, als das gesamte Vermögen von Ismatullah Khalozai, der beschuldigt wird, in der Türkei ansässige internationale Geldtransferunternehmen für die Dschihadistengruppe zu leiten, in der Türkei ein gefroren wurde. Dieser Schritt hat die Drohungen von ISKP gegen die Türkei erheblich verstärkt, wie aus den Erklärungen der Terrorgruppe hervorgeht (AlMon 19.2.2024). Am 28.1.2024 verübten maskierte Angreifer einen Anschlag auf eine römisch-katholische Ma rien-Kirche in Istanbul, bei dem eine Person getötet wurde. Kurze Zeit später bekannte sich der Islamische Staat über seine offizielle Nachrichtenagentur Amaq News Agency dazu. Die türkische Polizei nahm 47 Personen fest, von denen die meisten aus Zentralasien stammten. Zwölf Personen waren kirgisischer, tadschikischer und usbekischer Nationalität. Der Vorfall warf ein Schlaglicht auf die wachsende Präsenz eines zentralasiatischen Ablegers der Gruppe Is lamischer Staat in der Türkei, der als Islamischer Staat - Provinz Khorasan bekannt ist. Der Angriff am 28. Januar war der erste erfolgreiche Angriff des IS in der Türkei seit dem Überfall auf den Istanbuler Nachtklub Reina. Seitdem haben die türkischen Sicherheitskräfte massive Gegenoperationen gegen IS-Verdächtige in der Türkei, Syrien und im Irak unternommen. Die Operationen scheinen tödliche Terroranschläge in großen Städten und Grenzgebieten verhin dert und die finanziellen Ressourcen der Kämpfer erschöpft zu haben. Jüngste Daten deuten überdies darauf hin, dass die Taliban den ISKP in Afghanistan erfolgreich eingedämmt haben, was erklären könnte, warum die Organisation ihren Schwerpunkt wieder auf die Türkei verlegt hat (Stimson 14.3.2024; vgl. DIP 30.4.2024). Der ISKP rekrutiert in der Türkei hauptsächlich zwei Personengruppen: ethnische Zentralasia ten, die aus Syrien und dem Irak fliehen und vor allem zwischen 2017 und 2019 in der Türkei ankommen sind, sowie Personen aus Afghanistan, die seit 2021 über illegale Migrationsrouten ins Land kommen. Die Türkei ist jedoch auch ein Ziel für Kämpfer aus der Levante und aus anderen Ländern, um sich dem ISKP anzuschließen. (DIP 30.4.2024). Vor allem die wachsende Zahl afghanischer Flüchtlinge, die in den letzten drei Jahren über den Iran ins Land kamen, hat es dem ISKP erleichtert, die Türkei als Finanz- und Transitdrehscheibe zu nutzen. Die Dschi hadisten, die durch die Überwachung ihrer Finanzströme durch die Taliban behindert werden, haben anscheinend einen neuen Weg gefunden, die Beschränkungen zu umgehen, indem sie Schläferzellen in der Türkei und in den Grenzgebieten zu Syrien einsetzen, um Überweisungen über die traditionellen Hawala-Börsen vorzunehmen (Stimson 14.3.2024). Der Anschlag in Istanbul im Januar 2024 wirft die Frage auf, wie diese ausgebildeten ISKP- Kämpfer die Türkei infiltrieren konnten (Stimson 14.3.2024), obwohl die Antiterroreinheiten der Istanbuler Polizei bereits sechs Monate vor dem Anschlag auf die Kirche Operationen durch führten (DIP 30.4.2024). Denn zuvor war es den türkischen Sicherheitskräften gelungen, eine Gruppe von Zentralasiaten, hauptsächlich aus Tadschikistan, wegen angeblicher Verbindun gen zu ISKP aufzuspüren und festzunehmen. - Im Dezember 2023 verhinderte die türkische Polizei Berichten zufolge einen Anschlag auf Kirchen und Synagogen. Trotz der häufigen Raz zien und Verhaftungen baut der ISKP seine Präsenz in der Türkei weiter aus. Kürzlich enthüllte einer der festgenommenen Dschihadisten, dass der Anführer der Gruppe in der Türkei, ein 66

45-jähriger Kirgise tadschikischer Herkunft, Anschläge auf die Konsulate von Schweden und den Niederlanden in Istanbul geplant hatte. Zu diesem Zweck vermittelte der ISKP potenziel len Selbstmordattentätern aus Russland, Afghanistan und Zentralasien die Reise in die Türkei. Aufgrund der intensiven Razzien und des harten Vorgehens der Polizei gegen Personen mit islamistischen Verbindungen konnten die Anschläge auf die Konsulate jedoch verhindert werden, und die potenziellen Attentäter hätten sich stattdessen nach Europa begeben können (Stim son 14.3.2024). Auch aufgrund der sprachlichen Gemeinsamkeiten können die Extremisten leicht andere zentralasiatische Einwanderer in türkischen Großstädten für ihre Ziele gewinnen, insbesondere in Istanbuls Stadtteil Başakşehir, und dort im Viertel Güvercintepe, der sich zu einem Zufluchtsort für Usbeken, Tadschiken und Turkmenen entwickelt hat (Stimson 14.3.2024; vgl. DIP 30.4.2024). Mit der Ausweitung der Aktivitäten der ISKP in der Türkei begannen dem Islamischen Staat nahestehende Medien, auf Türkisch zu publizieren. So wurden Ausgaben der ISKP-Zeitschrift Voice of Khorasan auch auf Türkisch veröffentlicht (DIP 30.4.2024). Quellen ■ AlMon - Al Monitor (19.2.2024): How and why ISIS-K has resurged in Turkey, https://www.al-monit or.com/originals/2024/02/how-and-why-isis-k-has-resurged-turkey , Zugriff 6.9.2024 ■ AnA - Anadolu Agency (14.2.2017): Turkish police arrest suspected Reina attack planner, https: //www.aa.com.tr/en/todays-headlines/turkish-police-arrest-suspected-reina-attack-planner/750315 , Zugriff 3.9.2024 ■ CNN - Cable News Network (17.1.2017): Istanbul nightclub attack suspect confesses, governor says, https://edition.cnn.com/2017/01/17/europe/istanbul-reina-attack-arrest/index.html , Zugriff 3.9.2024 ■ DIP - Diplomat, The (30.4.2024): Islamic State Khorasans Westward Network Expansion Into Iran, Turkey, and Europe, https://thediplomat.com/2024/04/islamic-state-khorasans-westward-network-e xpansion-into-iran-turkey-and-europe , Zugriff 3.9.2024 ■ DS - Daily Sabah (29.10.2024): Turkish police catch 33 Daesh financiers in Istanbul, https://www. dailysabah.com/politics/war-on-terror/turkish-police-catch-33-daesh-financiers-in-istanbul , Zugriff 22.11.2024 ■ Stimson - Stimson Center (14.3.2024): What Does a Recent ISIS-K Terror Attack Mean for Turkey? Stimson Center, https://www.stimson.org/2024/what-does-a-recent-isis-k-terror-attack-mean-for-t urkey, Zugriff 2.9.2024 4 Rechtsstaatlichkeit / Justizwesen Letzte Änderung 2025-08-06 13:33 Allgemeine Situation der Rechtsstaatlichkeit und des Justizwesens Der systembedingte Mangel an Unabhängigkeit der Justiz ist eines der größten Probleme in der Türkei. Die Exekutive bzw. die Regierung übt eine erhebliche Kontrolle über die Justiz aus und mischt sich häufig in gerichtliche Entscheidungen ein, wodurch die Rechtsstaatlichkeit und die Unabhängigkeit der Justiz immer weiter zurückgedrängt werden. Die Justiz ist nach wie vor ein zentrales Instrument der Regierung, um die Opposition zum Schweigen zu bringen und Andersdenkende zu inhaftieren (BS 19.3.2024, S. 12f.; vgl. USDOS 22.4.2024, S. 11f., CAT 14.8.2024, S. 11, AI 29.4.2025, EP 7.5.2025, Pt. 8). Zudem ist die Justiz auch bei der Unter suchung und Verfolgung größerer Korruptionsfälle der Einmischung der Regierung ausgesetzt (USDOS 22.4.2024, S. 58). Insbesondere infolge der Verabschiedung des Gesetzes Nr. 6524 im Jahr 2014 und der Verfassungsänderungen von 2017 hat die Kontrolle der Exekutive über 67

die Justiz drastisch zugenommen, dies trotz der Bestimmungen von Art. 138 der Verfassung und Art. 4 des Gesetzes Nr. 2802, die beide die Unabhängigkeit der Judikative betreffen (UNHRCOM 28.11.2024, S. 9). - Das Europäische Parlament sah zuletzt im Mai 2025 u. a. den kritischen Zustand des Justizwesens – einschließlich der mangelnden Achtung der Urteile des Verfas sungsgerichts – als einen der Hauptgründe für die katastrophale Lage der Rechtsstaatlichkeit und sprach hierbei von der „ Untergrabung der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei durch die türkische Regierung“ (EP 7.5.2025, G, R). Die ernsten Bedenken der EU über die anhaltende Verschlechterung der demokratischen Stan dards, der Rechtsstaatlichkeit, der Unabhängigkeit der Justiz und der Achtung der Grundrechte wurden laut Europäischer Kommission nicht berücksichtigt (EC 30.10.2024, S. 3; vgl. USDOS 22.4.2024, S.1, 11f.). Ende November 2024 kam auch Kritik seitens des Menschenrechtsaus schusses der Vereinten Nationen, und zwar in Hinblick auf die Umsetzung des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (International Covenant on Civil and Political Rights - ICCPR). - Der Ausschuss war der Auffassung, „ dass die im April 2017 während des Ausnahmezustands vorgenommenen Verfassungsänderungen die Befugnisse der Exekutive auf Kosten des Parlaments und der Justiz unverhältnismäßig gestärkt haben, was berechtigte Bedenken hinsichtlich einer mangelnden Rechenschaftspflicht und Gewaltenteilung im Ver tragsstaat aufkommen lässt, insbesondere im Hinblick auf die Verabschiedung von Gesetzen ohne Beteiligung des Parlaments und die Ernennung von Richtern und Staatsanwälten ohne wirksame Kontrollverfahren (Art. 4). […] Der Vertragsstaat sollte in Erwägung ziehen, seine Ge setzgebung zu überarbeiten, um die Rechenschaftspflicht zu gewährleisten und den Grundsatz der Gewaltenteilung strikt einzuhalten, insbesondere in Bezug auf die Judikative. Ferner sollte er in Gesetz und Praxis die volle Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz gewährleisten“ [Originalzitat auf Englisch] (UNHRCOM 28.11.2024, S. 2). Justizreformen Strategische Reformdokumente sind zwar vorhanden, reichen aber nicht aus, um die erheb lichen Mängel zu beheben. Die Strategie für die Justizreform 2019-2023 geht nicht in vollem Umfang auf Mängel des Justizwesens ein. Das achte Justizreformpaket wurde im März 2024 angenommen, geht aber ebenfalls nicht angemessen auf die strukturellen Mängel des Justizsys tems ein (EC 30.10.2024, S. 25, S. 19). Die im Jänner 2025 veröffentlichte Justizreformstrategie (2025-2029) fokussiert auf die Beschleunigung von Gerichtsverfahren. Maßnahmen zur Stär kung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz, welche die zentralen Mängel des türkischen Justizsystems angehen, werden ausschließlich im Rahmen einer möglichen Verfas sungsreform behandelt. Die Strategie enthält keine konkreten Vorschläge zur Lösung der von der Venedig-Kommission identifizierten Probleme (ÖB Ankara 4.2025, S. 18). So bedauerte das Europäische Parlament im Mai 2025 „ zutiefst, dass sich die Unabhängigkeit der Justiz in der Türkei trotz einer Reformstrategie, die neun Pakete von Justizreformen umfasst, nach wie vor in einem desolaten Zustand befindet, nachdem die Regierung systematisch in das Justizsystem eingegriffen und es politisch instrumentalisiert hat“ (EP 7.5.2025, Pt. 8). 68

Die Korrektur der Anti-Terror-Gesetzgebung stand im Zentrum des achten Reformpaketes. - Die umstrittenste Bestimmung des Pakets betraf nämlich den Straftatbestand der „ Begehung von Straftaten im Namen einer terroristischen Vereinigung, ohne deren Mitglied zu sein“, der in Artikel 220/6 des türkischen Strafgesetzbuchs (TCK) geregelt war, aber im September 2023 vom Verfassungsgericht als verfassungswidrig aufgehoben worden war. In der Begründung für seine einstimmige Entscheidung erklärte das Verfassungsgericht, dass die Bestimmung „ nicht klar und vorhersehbar genug ist, um willkürliche Praktiken von Behörden zu verhindern, und nicht den Kriterien der Rechtmäßigkeit entspricht“ (EI 4.4.2024; vgl. AI 29.4.2025, MLSA 23.2.2024). Die Änderung von Artikel 220/6 trägt allerdings den bereits bestehenden Bedenken in Bezug auf Klarheit und Vorhersehbarkeit zum besseren Schutz der Menschenrechte von Personen, die einer Straftat beschuldigt werden, nicht in vollem Umfang Rechnung, da der vorgeschlagene Artikel nach wie vor keine klaren Kriterien dafür enthält, wann die Begehung einer Straftat im Namen einer bewaffneten Organisation unter Strafe gestellt werden kann, womit das Gesetz keine auf internationalen Standards basierenden Garantien gegen willkürliche Eingriffe durch staatliche Behörden bietet (AI 29.2.2024, S.2f.; vgl. UNHRCOM 28.11.2024, S. 4). Das heißt, mit dem Justizreformpaket 2024 wurde die Vorschrift über die „ Begehung von Straftaten im Namen einer Organisation, ohne Mitglied zu sein“, trotz vorhergehender Aufhebung und des Auftrages durch das Verfassungsgericht an den Gesetzesgeber innert vier Monaten die Mängel im Gesetzestext zu beheben, unverändert übernommen. Die gleiche Bestimmung gilt auch für „ bewaffnete kriminelle Organisationen“ gemäß Artikel 314 des Strafgesetzbuches (MLSA 23.2.2024). Auswirkungen der Anti-Terror-Gesetzgebung Mit Auslaufen des Ausnahmezustandes im Juli 2018 beschloss das Parlament das Gesetz Nr. 7145, durch das Bestimmungen im Bereich der Grundrechte abgeändert wurden. Zu den zahlreichen, nunmehr gesetzlich verankerten Maßnahmen aus der Periode des Ausnahmezu standes zählt insbesondere die Übertragung außerordentlicher Befugnisse an staatliche Behör den sowie Einschränkungen der Grundfreiheiten. Problematisch ist vor allem der weit ausgelegte Terrorismus-Begriff in der Anti-Terror-Gesetzgebung (ÖB Ankara 4.2025, S.8f.). Das Europäi sche Parlament (EP) „ betont, dass die Anti-Terror-Bestimmungen in der Türkei immer noch zu weit gefasst sind und nach freiem Ermessen zur Unterdrückung der Menschenrechte und aller kritischen Stimmen im Land, darunter Journalisten, Aktivisten und politische Gegner, eingesetzt werden“ (EP 7.6.2022, S. 18, Pt. 29) „ unter der komplizenhaften Mitwirkung einer Justiz, die unfähig oder nicht willens ist, jeglichen Missbrauch der verfassungsmäßigen Ordnung einzu dämmen“, und „ fordert die Türkei daher nachdrücklich auf, ihre Anti-Terror-Gesetzgebung an internationale Standards anzugleichen“ (EP 19.5.2021, S. 9, Pt. 14). In ähnlicher Weise äußerte sich Ende November 2024 der Menschenrechtsausschuss der Ver einten Nationen, indem er seiner Besorgnis über die mangelnde Vereinbarkeit des rechtlichen Rahmens zur Terrorismusbekämpfung mit dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politi sche Rechte (ICCPR) äußerte, wobei explizit das Antiterrorgesetzes (Nr. 3713), wo die Begriffe „Terrorismus“ und „ terroristischer Straftäter“ weit gefasst werden. Der Ausschuss war auch be sorgt über das Gesetz Nr. 7262 über die Verhinderung der Finanzierung der Verbreitung von 69

Massenvernichtungswaffen. Während das Ziel des Gesetzes die Bekämpfung der Geldwäsche und der Finanzierung des Terrorismus war, wurde es Berichten zufolge dazu benutzt, zivil gesellschaftliche Organisationen ins Visier zu nehmen und sie einer strengen Überwachung und Kontrolle, dem Einfrieren von Vermögenswerten und der Einschränkung ihrer Rechte zu unterwerfen, so der Ausschuss (UNHRCOM 28.11.2024, S. 4). Sie hierzu auch das Kapitel:Nicht regierungsorganisationen (NGOs). Auf Basis der Anti-Terror-Gesetzgebung wurden türkische Staatsbürger aus dem Ausland ent führt oder unter Zustimmung der Drittstaaten in die Türkei verbracht (EP 19.5.2021, S. 16, Pt. 40). Das EP verurteilte so wie 2021 in seiner Entschließung vom Juni 2022 neuerlich „ aufs Schärfste die Entführung türkischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz außerhalb der Türkei und deren Aus lieferung in die Türkei, was eine Verletzung des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit und der grundlegenden Menschenrechte darstellt“ (EP 7.6.2022, S. 19, Pt. 31). Die Europäische Kom mission kritisierte die Türkei für die hohe Zahl von Auslieferungsersuchen im Zusammenhang mit terroristischen Straftaten, die (insbesondere von EU-Ländern) aufgrund des Flüchtlingssta tus oder der Staatsangehörigkeit der betreffenden Person abgelehnt wurden. Überdies zeigte sich die Europäische Kommission besorgt ob der hohen Zahl der sog. „ Red Notices“ bezüglich wegen Terrorismus gesuchter Personen. Diese Red Notices wurden von INTERPOL entweder abgelehnt oder gelöscht (EC 19.10.2021, S. 44). Siehe auch die Kapitel: Verfolgung fremder Staatsbürger wegen Straftaten im AuslandSicherheitslage / Gülen- oder Hizmet-Bewegung. Die Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen für die Unabhängigkeit von Richtern und Anwälten, Margaret Satterthwaite, äußerte im Juni 2024 ihre tiefe Besorgnis über die Verschlech terung der Unabhängigkeit der Justiz und der Menschenrechte in der Türkei. Vorliegende Infor mationen würden ferner darauf hindeuten, dass der Rechtsrahmen zur Terrorismusbekämpfung der Regierung Befugnisse über die Justiz einräumt und damit deren Unabhängigkeit untergräbt. - Das Gesetz Nr. 7145 gebe der Regierung die Befugnis, jeden Beamten, Richter oder Staats anwalt zu entlassen, und zwar ausschließlich auf der Grundlage einer Bewertung ihrer Kontakte zu terroristischen Organisationen oder Strukturen, Einrichtungen oder Gruppen und nicht auf der Grundlage von Beweisen. Der Nationale Sicherheitsrat (MGK) sei als Sicherheitsorgan in der Lage, solche Entscheidungen ohne richterliche Aufsicht und Überprüfung zu treffen. Um die Entlassung eines Richters zu rechtfertigen, verlange das Gesetz lediglich eine „ Verbindung“, „ Vereinigung“ oder „ Zugehörigkeit“ zu einer „ Struktur, Formation oder Gruppe“, die der Nationale Sicherheitsrat der Türkei als „ gegen die nationale Sicherheit des Staates gerichtet“ eingestuft hat. Diese vage und zu weit gefasste Formulierung schaffe ein großes Potenzial für die willkür liche Entlassung von Richtern unter Verletzung der Garantien der richterlichen Unabhängigkeit (OHCHR 21.6.2024, S. 1f.). Verfolgung von Strafverteidigern bei Terrorismusverfahren Die Verfassung sieht zwar das Recht auf ein faires öffentliches Verfahren vor, doch Anwalts kammern und Rechtsvertreter behaupten, dass die zunehmende Einmischung der Exekutive in die Justiz und die Maßnahmen der Regierung durch die Notstandsbestimmungen dieses Recht 70

gefährden. Einige Anwälte gaben an, dass sie zögerten, Fälle anzunehmen, insbesondere sol che von Verdächtigen, die wegen Verbindungen zur PKK oder zur Gülen-Bewegung angeklagt waren, aus Angst vor staatlicher Vergeltung, einschließlich Strafverfolgung (USDOS 20.3.2023 S. 11, 19). Strafverteidiger, die Angeklagte in Terrorismusverfahren vertreten, sind mit Verhaftung und Verfolgung aufgrund der gleichen Anklagepunkte wie ihre Mandanten konfrontiert (USDOS 20.3.2023, S. 11; vgl. TT/Perilli 2.2021, S. 41, HRW 13.1.2021). Beispielsweise gab ein von Pro Asyl befragter Rechtsanwalt an, dass gegen ihn fünf Ermittlungsverfahren wegen Terrorismus delikten liefen, die alle im Zusammenhang mit seiner beruflichen Tätigkeit stünden (Pro Asyl 9.2024, S. 75). Das EP zeigte sich entsetzt „ wonach Anwälte, die des Terrorismus beschuldigte Personen ver treten, wegen desselben Verbrechens, das ihren Mandanten zur Last gelegt wird, oder eines damit zusammenhängenden Verbrechens strafrechtlich verfolgt wurden, das heißt, es wird ein Kontext geschaffen, in dem ein eindeutiges Hindernis für die Wahrnehmung des Rechts auf ein faires Verfahren und den Zugang zur Justiz errichtet wird“ (EP 7.6.2022, S. 12, Pt. 15). Auch der UN-Menschenrechtsausschuss war besorgt aufgrund der sehr hohen Zahl von Rechtsanwälten, gegen die insbesondere während des Ausnahmezustands wegen des Verdachts der Mitglied schaft in einer bewaffneten terroristischen Vereinigung gemäß Art. 314/2 des Strafgesetzbuchs ermittelt wurde, die verhaftet oder in Untersuchungshaft genommen wurden, nur weil sie ihren Beruf als Rechtsanwalt ausübten (UNHRCOM 28.11.2024, S. 9). Im Februar 2024 erhob die Generalstaatsanwaltschaft Anklage gegen zehn Rechtsanwälte in Diyarbakır unter dem Vorwurf der „ Mitgliedschaft in einer bewaffneten/terroristischen Organisa tion“ gemäß Artikel 314 des Strafgesetzbuches, weil sie „ als Verteidiger für inhaftierte Personen tätig waren, die an illegalen organisatorischen Handlungen und Aktivitäten teilgenommen haben“. Die Anklagen stützten sich auf die Aussagen eines Zeugen und die Anwesenheit der angeklag ten Anwälte bei der Vernehmung von Gefangenen, gegen die „ ein Gerichtsverfahren wegen Straftaten im Zusammenhang mit einer illegalen Organisation“ läuft. Die Staatsanwaltschaft wertete die Anwesenheit der Anwälte bei den Verhören als Beweis dafür, dass die Anwälte als Verteidiger „ auf Anweisung einer illegalen Organisation“ an diesen Verhören teilnahmen. Die Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen für die Unabhängigkeit von Richtern und Anwäl ten zeigte sich dementsprechend äußerst besorgt über Berichte, wonach die Staatsanwaltschaft die Tätigkeit als Verteidiger von Personen, gegen die ein Gerichtsverfahren wegen Straftaten im Zusammenhang mit einer illegalen Organisation läuft, mit der Tätigkeit als Anwalt im Auftrag einer illegalen Organisation gleichsetzt. Internationale und regionale Standards verbieten, so die Sonderberichterstatterin, ausdrücklich die Identifizierung von Anwälten mit ihren Mandanten oder deren Anliegen bei der Ausübung ihrer beruflichen Pflichten (OHCHR 21.6.2024, S. 8, 11). Am 16.1.2025 äußerte die UN-Sonderberichterstatterin für die Situation von Menschenrechts verteidigern, Mary Lawlor, ihre tiefe Besorgnis über die anhaltende Langzeitinhaftierung von neun prominenten Menschenrechtsverteidigern und Anwälten, die alle im Zusammenhang mit ihrer friedlichen Arbeit willkürlich verhaftet und in unfairen Prozessen unter fadenscheinigen Anschuldigungen im Zusammenhang mit Terrorismus verurteilt wurden. Acht sind Mitglieder der 71

Progressiven Anwaltsvereinigung (Çağdaş Hukukçular Derneği - ÇHD), die Opfer von Polizeige walt und Folter sowie Bürgerinnen und Bürger vertritt, die wegen ihrer Meinung verfolgt werden. Sie wurden zwischen 2018 und 2019 verhaftet und wegen „ Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ angeklagt; zwei von ihnen wurden auch wegen „ Propaganda für eine terroristi sche Vereinigung“ angeklagt. Sie wurden in einem als ÇHD II-Prozess bekannten Verfahren, das nicht den internationalen Standards für faire und ordnungsgemäße Gerichtsverfahren ent sprach, zu bis zu 13 Jahren Haft verurteilt. Alle neun Menschenrechtsverteidiger befinden sich in geschlossenen Hochsicherheitsgefängnissen (OHCHR 16.1.2025). Im Mai (2023) erklärte der damalige Innenminister Soylu: „ Wenn die Anwälte der PKK eingesperrt werden, dann wird es in der Türkei keine PKK mehr geben. Sie sind das Ziel … Die PKK vergiftet die Türkei über die Anwälte“ (USDOS 22.4.2024, S. 9). Statistiken der Anti-Terror-Gesetzgebung Laut Statistiken des türkischen Justizministeriums wurden zwischen 2016 und 2020 mehr als 265.000 Personen wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verurteilt. Im Juni 2022 lag die Gesamtzahl der von der Justiz eingeleiteten Gerichtsverfahren wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung bei über zwei Millionen. In Anbetracht der großen Zahl der strafrechtlich verfolgten Personen gehen Schätzungen davon aus, dass mehr als vier Millionen Menschen in der türkischen Gesellschaft direkt betroffen sind bzw. waren (OHCHR 21.6.2024, S. 4). Der offiziellen Statistik des türkischen Justizministeriums für das Jahr 2021 [Anm.: Danach gab es keine detaillierteren Aufschlüsselungen in den Statistiken] zufolge wurden 7.059 Strafur teile gem. Art. 220 und 44.042 gem. Art. 314 des Strafgesetzbuches (Gesetz Nr. 5237) gefällt. 3.057 wurden nach Art. 220 und 18.816 nach Art. 314 zu Haftstrafen verurteilt. 1.912 (Art.220) bzw. 12.093 (Art. 314) fielen in die Kategorie „ sonstige Verurteilungen“. 7.098 Angeklagte nach Artikel 220 und 17.970 nach Artikel 314 wurden freigesprochen [Anm.: der Rest fällt in diverse andere Kategorien, welche hier nicht speziell angeführt werden]. 2021 gab es nach dem An ti-Terror-Gesetz (Gesetz Nr. 3713) 2.892 Verurteilungen, davon 1.149 Haftstrafen und 210 bedingte Haftstrafen. Die Zahl der sonstigen Verurteilungen von Angeklagten vor Strafgerichten nach dem Anti-Terror-Gesetz betrug 751 (MoJ - GDJR&S 2022, S.95, 98, 102, 112, 154, 157, 163, 166, 181, 184; S. 63, 113, 122, 140, 158, 167). Verfolgt werden Personen auch nach dem Gesetz Nr. 6415 (2003), dem Gesetz zur Verhin derung der Finanzierung des Terrorismus’. 2024 wurden laut offizieller Statistik gegen fast 11.000 Verdächtige ermittelt. Gerichtlich verfolgt wurden 2024 810 Personen (MoJ - GDJR&S 3.2025, S. 76f.). Im Oktober 2024 wurde beispielsweise Hatice Onaran, Mitglied des Gefäng nisausschusses des türkischen Menschenrechtsvereins İHD, gemäß dem Gesetz Nr. 6415 zu vier Jahren und zwei Monaten Haft verurteilt. Grund dafür war, dass sie acht Personen, die sich wegen terrorismusbezogener Straftaten in Haft befanden, kleinere Geldsummen zur Deckung persönlicher Bedürfnisse überwiesen hatte (AI 29.4.2025; vgl. ANF 15.4.2025). Faires Verfahren 72

Die Auswirkungen dieser Situation auf das Strafrechtssystem zeigen sich dadurch, dass sich zahlreiche seit Langem bestehende Probleme, wie der Missbrauch der Untersuchungshaft, ver schärft haben, und neue Probleme hinzugekommen sind. Vor allem bei Fällen von Terrorismus und Organisierter Kriminalität hat die Missachtung grundlegender Garantien für ein faires Ver fahren durch die türkische Justiz und die sehr lockere Anwendung des Strafrechts auf eigentlich rechtskonforme Handlungen zu einem Grad an Rechtsunsicherheit und Willkür geführt, der das Wesen des Rechtsstaates gefährdet (CoE-CommDH 19.2.2020). 2024 betrafen von den 73 Ur teilen, wobei 67 hiervon zumindest eine Verletzung umfassten, des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) im Sinne der Verletzung der Menschenrechte in der Türkei allein 19 das „ Recht auf Freiheit und Sicherheit“ und 13 das „ Recht auf ein faires Verfahren“ (ECHR 22.1.2025). Die fehlende Unabhängigkeit der Richter und Staatsanwälte ist die wichtigste Ur sache für die vom EGMR in seinen Urteilen gegen die Türkei häufig monierten Verletzungen von Regelungen zu fairen Gerichtsverfahren, obgleich dieses Grundrecht in der Verfassung verankert ist (ÖB Ankara 4.2025, S.10f.). Bereits im Juni 2020 wies der damalige Präsident des türkischen Verfassungsgerichts, Zühtü Arslan [Anm.: am 21.3.2024 aus dem Amt geschieden], darauf hin, dass die Mehrzahl der Rechtsverletzungen (52 %) auf das Fehlen eines Rechts auf ein faires Verfahren zurückzuführen ist, was laut Arslan auf ein ernstes Problem hinweise, das gelöst werden müsse (Duvar 9.6.2020). 2022 zitiert das Europäische Parlament den Präsidenten des türkischen Verfassungsgerichtes, wonach mehr als 73 % der über 66.000 im Jahr 2021 eingereichten Gesuche sich auf das Recht auf ein faires Verfahren beziehen, was den Präsidenten veranlasste, die Situation als katastrophal zu bezeichnen (EP 7.6.2022, S. 12, Pt. 16). Einschränkungen für den Rechtsbeistand Mängel gibt es weiters beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbeson dere persönlichen Daten und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen gegen Beschuldigte sowie bei den Verteidigungsmöglichkeiten der Rechtsanwälte bei sog. Terror-Prozessen. Fälle mit Bezug auf eine angebliche Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung oder der Arbeiterpar tei Kurdistans (PKK) werden häufig als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte bis zur Anklageerhebung keine Akteneinsicht nehmen können (AA 20.5.2024, S. 12; vgl. AI 26.10.2020). Gerichtliche Geheimhaltungsbeschlüsse werden regelmäßig ohne konkrete Be gründung erteilt, vor allem fehlt ihnen die notwendige Abwägung zwischen den Grundrechten des Beschuldigten und der Gefährdung des Untersuchungszwecks. Teilweise wird nicht einmal Akteneinsicht in jene Teile der Ermittlungsakte gewährt, die nach der gesetzlichen Regelung nicht von der Akteneinsicht ausgeschlossen werden dürfen (Pro Asyl 9.2024, S. 7). Gerichts protokolle werden mit wochenlanger Verzögerung erstellt. Beweisanträge der Verteidigung und die Befragung von Belastungszeugen durch die Verteidiger werden im Rahmen der Verhand lungsführung des Gerichts eingeschränkt. Geheime Zeugen können im Prozess nicht direkt befragt werden. Der subjektive Tatbestand wird nicht erörtert, sondern als gegeben unterstellt (AA 20.5.2024, S. 12; vgl. AI 26.10.2020). Einerseits werden oftmals das Recht auf Zugang zur Justiz und das Recht auf Verteidigung aufgrund der vorgeblichen Vertraulichkeit der Unterlagen eingeschränkt, andererseits tauchen gleichzeitig in den Medien immer wieder Auszüge aus den 73

Akten der Staatsanwaltschaft auf, was zu Hetzkampagnen gegen die Verdächtigten/Angeklagten führt und nicht selten die Unschuldsvermutung verletzt (ÖB Ankara 4.2025, S.12). Einschränkungen für den Rechtsbeistand ergeben sich auch bei der Festnahme und in der Un tersuchungshaft. - So sind die Staatsanwälte beispielsweise befugt, die Polizei mit nachträglicher gerichtlicher Genehmigung zu ermächtigen, Anwälte daran zu hindern, sich in den ersten 24 Stunden des Polizeigewahrsams mit ihren Mandanten zu treffen, wovon sie laut Human Rights Watch auch routinemäßig Gebrauch machen. Die privilegierte Kommunikation von Anwälten mit ihren Mandanten in der Untersuchungshaft wurde faktisch abgeschafft, da es den Behörden gestattet ist, die gesamte Kommunikation zwischen Anwalt und Mandant aufzuzeichnen und zu überwachen (HRW 10.4.2019; vgl. Pro Asyl 9.2024, S. 111). Laut von Pro Asyl befragten Rechts anwälten besteht der Hauptzweck der Einschränkung des Zugangs zu einem Rechtsbeistand in den ersten 24 Stunden darin, zu erreichen, dass Beschuldigte in informellen Vernehmungen gegen sich selbst und gegen andere aussagen, oder auch die Person durch Beeinflussung zu „ tätiger Reue“ zu bewegen und sie zu einem „ geheimen Zeugen“ zu machen (Pro Asyl 9.2024, S. 109). Ein prominentes Beispiel hierfür: In seinem Urteil vom 6.6.2023 in der Rechtssache Demirtaş und Yüksekdağ Şenoğlu [seit November 2016 in Haft] gegen die Türkei entschied der Euro päische Gerichtshof für Menschenrechte mehrheitlich (mit 6 gegen 1 Stimme), dass ein Verstoß gegen Artikel 5 Absatz 4 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Recht auf eine rasche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Inhaftierung) vorliegt. Die beiden ehemaligen Ko-Vorsit zenden der HDP beschwerten sich darüber, dass sie keinen wirksamen Rechtsbeistand erhalten hatten, um gegen ihre Untersuchungshaft zu klagen, da die Gefängnisbehörden ihre Treffen mit ihren Anwälten überwacht und die mit ihnen ausgetauschten Dokumente beschlagnahmt hatten. Der EGMR war der Ansicht, dass die nationalen Gerichte keine außergewöhnlichen Umstände dargelegt hatten, die eine Abweichung vom Grundprinzip der Vertraulichkeit der Ge spräche der Beschwerdeführer mit ihren Rechtsanwälten rechtfertigen könnten, und dass die Verletzung des Anwaltsgeheimnisses den Beschwerdeführern einen wirksamen Beistand durch ihre Rechtsanwälte im Sinne von Artikel 5 § 4 der Konvention vorenthalten hatte. In Anbetracht der in seinen früheren Urteilen getroffenen Feststellungen war der Gerichtshof außerdem der Ansicht, dass es nicht möglich war, das Vorliegen solcher Umstände nachzuweisen, da der Gerichtshof das Argument der türkischen Regierung vormals zurückgewiesen hatte, dass sich die Beschwerdeführer wegen terrorismusbezogener Straftaten in Untersuchungshaft befunden hätten. Schließlich stellte das Gericht fest, dass die nationalen Behörden keine detaillierten Be weise vorgelegt hatten, die die Verhängung der angefochtenen Maßnahmen gegen die Kläger im Rahmen des Notstandsdekrets Nr. 676 rechtfertigen könnten. Das Gericht entschied, dass die Türkei den Klägern jeweils 5.500 Euro an immateriellem Schaden und zusammen 2.500 Euro an Kosten und Auslagen zu zahlen hat (ECHR 6.6.2023). Geheime bzw. anonyme Zeugen Das Thema der geheimen Zeugenaussagen kam mit dem 2008 verabschiedeten Zeugenschutz gesetz auf die Tagesordnung. Trotz dutzender Skandale fällen die Gerichte nach wie vor Urteile 74

auf der Grundlage der Aussagen anonymer bzw. geheimer Zeugen, bzw. sehen diese kritisch als ein politisches Instrument (Mezopotamya 2.8.2022; vgl. TM 26.11.2020). Die Entscheidung, die Identität eines Zeugen geheim zu halten, wird regelmäßig entgegen der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts und des EGMR nicht mit konkreten und objektiven Tatsachen be gründet. In Terrorismusverfahren können die abstrakten und allgemeinen Aussagen solcher geheimer Zeugen jedoch zur wesentlichen und entscheidenden Grundlage für Verhaftungs- und Verurteilungsentscheidungen werden (Pro Asyl 9.2024, S. 84). Ein Zeuge mit dem Codenamen „ Garson“ (Kellner) ist wahrscheinlich der bekannteste, da er Zeuge in einem Fall war, an dem rund 4.000 Polizisten, vermeintliche Unterstützer der Gülen- Bewegung, beteiligt waren. Problematisch sind insbesondere Fälle, bei denen sich herausstellt, dass die anonymen Zeugen gar nicht existieren. Etwa wurden die Aussagen des anonymen Zeugen „ Mercek“ zur Begründung für die Verurteilung vieler Politiker herangezogen, u. a. auch gegen den seit 2016 inhaftierten, ehemaligen Ko-Vorsitzenden der pro-kurdischen Demokra tischen Partei der Völker (HDP), Selahattin Demirtaş. Später stellte sich jedoch heraus, dass es diese Person gar nicht gab (Mezopotamya 2.8.2022; vgl. TM 26.11.2020). Mitunter geben die Behörden zu, dass es keine anonymen Zeugen gibt. So musste die Polizeibehörde von Diyarbakır 2019 eingestehen, dass eine anonyme Zeugin mit dem Codenamen „ Venus“, de ren Aussage zur Festnahme und Inhaftierung zahlreicher Personen führte, in Wirklichkeit nicht existierte (NaT 19.2.2019). Im seit 2022 laufenden Verbotsverfahren gegen die HDP wurde zumindest ein anonymer Zeuge gehört, der laut der HDP-Parlamentarierin, Meral Danış-Beştaş, der Generalstaatsanwaltschaft Auskunft über die Parteifinanzen erteilte, was vermeintlich zur Sperrung der Parteienförderung für die HDP führte (Bianet 30.1.2023). Im Februar 2022 stellte das Verfassungsgericht fest, dass die Aussagen geheimer Zeugen, die konkrete Tatsachen enthalten, als „ starke Indizien für eine Straftat“ akzeptiert werden können, ohne dass sie durch andere Beweise gestützt werden, und dass die auf diese Weise vorgenom menen Verhaftungen im Einklang mit dem Gesetz stehen würden (DW 17.2.2022; vgl. Duvar 18.2.2022). Allerdings liegt die Betonung auf „ konkrete Tatsachen“, denn das Urteil war die Folge einer laut Verfassungsgericht rechtswidrigen Verhaftung eines Gemeinderates in Diyarbakır-Eğil im Jahr 2020 und basierte auf einer geheimen Zeugenaussage, mit welcher der Gemeinderat der „ Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ beschuldigt wurde. Diese Aussage war rechtswidrig weil „ abstrakt“ und eben nicht „ konkret“. Kritiker der Hinzuziehung geheimer bzw. anonymer Zeugen betrachten diese Praxis als Instrument, Zeugenaussagen zu fälschen und abweichende Meinungen und Widerstand zum Schweigen zu bringen (Duvar 18.2.2022). Im Gegensatz zum Verfassungsgericht hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bereits Mitte Oktober 2020 entschieden, dass geheime Zeugenaussagen, welche die türkischen Gerichte insbesondere in Prozessen gegen politische Dissidenten als Beweismittel akzeptiert haben, nicht als ausreichendes Beweismaterial für eine Verurteilung angesehen wer den können. Wenn die Verteidigung die Identität des Zeugen nicht kennt, wird ihr nach Ansicht des EGMR in jedem Stadium des Verfahrens die Möglichkeit genommen, die Glaubwürdigkeit 75
