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Dieses Dokument ist Teil der Anfrage „Länderinformationsblätter“
Die 2011 gegründete Nationale Kommission zur Korruptionsbekämpfung (INLUCC) setzt ihre Arbeit mit unzureichender Finanzierung und wenig Befugnissen zur Durchsetzung rechtlicher Schritte fort (FH 29.2.2024). Im August 2021 schloss die Polizei die INLUCC-Zentrale (FH 29.2.2024; vgl. USDOS 23.4.2024). Im März 2022 organisierten die Mitarbeiter der INLUCC einen Sitzstreik, um gegen die Nichtzahlung ihrer Gehälter und das Einfrieren ihrer Arbeit zu pro testieren. Im Oktober 2022 setzte Präsident Saïed per Dekret Nadia Saadi als kommissarische Leiterin von INLUCC ein, doch die Zukunft der Organisation bleibt ungewiss (FH 29.2.2024). Präsident Saïed rechtfertigte seine Machtergreifung im Jahr 2021 zum Teil damit, dass sie not wendig sei, um die Korruption im politischen Establishment auszurotten. Die anschließenden Maßnahmen seiner Regierung veranlassten Kritiker aber dazu, den Präsidenten zu beschul digen, die Korruptionsbekämpfung zu instrumentalisieren, um seine politischen Gegner aus zuschalten (FH 29.2.2024). Die Antikorruptionskommission wurde erheblich geschwächt. Ihre Schließung bedeutet einen schweren Schlag für die Rechenschaftspflicht und Transparenz und gefährdet die Sicherheit von Whistleblowern und Antikorruptionsaktivisten (TI 30.1.2024). So wurde bereits im Juli 2021 der ehemaliger Leiter des von Präsident Saïed aufgelösten Parla ments und Führer der islamistisch inspirierten Ennahda-Partei, Rached Ghannouchi, aufgrund des Verdachts auf Korruption und Geldwäsche in Zusammenhang mit Überweisungen aus dem Ausland an eine mit Ennahda verbundene Wohltätigkeitsorganisation befragt (ÖB Tunis 10.2022). Das Gesetz sieht strafrechtliche Sanktionen für Korruption durch Beamte vor, aber die Regierung setzt im Allgemeinen das Gesetz nicht effektiv um (USDOS 23.4.2024). Die Antikorruptionsge setzgebung gilt seit jeher als schwach (FH 29.2.2024). Trotz eines bestehenden Rechtsrahmens mit einem Strafgesetzbuch und einem Gesetz gegen Korruption und Interessenkonflikte von 2018 bleiben korrupte Amtsträger weitgehend unangetastet, was v. a. an ihrem Einfluss auf die Medien und die Verwaltung (v. a. die Polizei) sowie an ihren politischen Verbindungen und an einer dysfunktionalen Justiz liegt. Die zahlreichen Strafverfolgungen, die nach der Machtergrei fung von Saïed stattfanden, wurden übereilt und aus politischen Gründen vollzogen - häufig von Militärgerichten, was die Glaubwürdigkeit der Prozesse beeinträchtigte. Die Bekämpfung der Korruption war das Leitmotiv für Saïeds Machtübernahme. Durch die gewaltsame Auflösung des Obersten Justizrates und die Entlassung von 57 Richtern ohne ordnungsgemäßes Verfah ren schwächte er die Justiz weiter und hat ihre Fähigkeit untergraben, gegen korrupte Beamte vorzugehen (BS 19.3.2024). Im Laufe des Jahres 2023 berichteten lokale und internationale Menschenrechtsgruppen, dass die Durchsetzung der Anti-Korruptionsgesetze häufig politisiert und eher zur Bekämpfung von Dissens als von Korruption eingesetzt wurde. Die Regierung verfügt über keine Strategie zur Korruptionsbekämpfung. Im Laufe des Jahres wurden einige Parlamentsabgeordnete aufgrund von Korruptionsvorwürfen angeklagt und inhaftiert. Präsident Saïed hat öffentlich erklärt, dass die Beseitigung der Korruption in den Behörden eine der Haupt prioritäten der Regierung sei, doch die Medien berichteten über zahlreiche Fälle von Korruption in der Regierung. Trotz der häufigen Versprechen des Präsidenten, gegen korrupte Beamte vorzugehen, berichten Oppositionsparteien und zivilgesellschaftliche Gruppen, dass der Präsi dent seine Antikorruptionsagenda dazu benutze, um politische Gegner willkürlich zu verhaften. 11

Der Präsident erklärte in einer öffentlichen Ansprache im April 2023, dass die Regierung gegen korrupte Beamte vorgehen wird (USDOS 23.4.2024). 2022 erließ Präsident Saïed ein Dekret, welches das Konzept der „ strafrechtlichen Versöhnung“ ausgeweitet hat. Es ermöglicht Geschäftsleuten, die wegen Korruption angeklagt sind, einer Bestrafung zu entgehen, indem sie angeblich gestohlene Gelder zurückzahlen oder sie in aus gewiesene regionale Entwicklungsprojekte investieren. Das Verfahren sollte demnach von einer vom Präsidenten ernannten Kommission geleitet werden (FH 29.2.2024). Quellen ■ BS - Bertelsmann Stiftung (19.3.2024): BTI 2024 Country Report Tunisia, https://www.ecoi.net/en/fi le/local/2105847/country_report_2024_TUN.pdf, Zugriff 12.11.2024 ■ FH - Freedom House (29.2.2024): Freedom in the World 2024 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/do kument/2105041.html, Zugriff 15.3.2024 ■ ÖB Tunis - Österreichische Botschaft Tunis [Österreich] (10.2022): Asylländerbericht Tunesien [Login erforderlich] ■ TI - Transparency International (30.1.2024): CPI 2023 for Middle East & North Africa: Dysfunctional approach to fighting corruption undermines progress, https://www.transparency.org/en/news/cpi-2 023-middle-east-north-africa-dysfunctional-approach-fighting-corruption , Zugriff 11.11.2024 ■ TI - Transparency International (2024): 2023 Corruption Perceptions Index - Explore Tunisia’s results, https://www.transparency.org/en/cpi/2023/index/tun, Zugriff 11.11.2024 ■ USDOS - United States Department of State [USA] (23.4.2024): 2023 Country Report on Human Rights Practices: Tunisia, https://www.ecoi.net/en/document/2107636.html, Zugriff 11.11.2024 8 NGOs und Menschenrechtsaktivisten Letzte Änderung 2025-02-26 21:10 Eine Vielzahl nationaler und internationaler NGOs untersucht Menschenrechtsfälle und publi ziert Ergebnisse ohne staatliche Restriktionen. Diese Organisationen berichten, dass Regie rungsbeamte selten kooperativ sind und auf ihre Ansichten eingehen (USDOS 23.4.2024; vgl. AA 22.6.2023). Internationale Organisationen wie Amnesty International, Organisation Mondia le contre la Torture oder Human Rights Watch können weitgehend ohne Einschränkungen in Tunesien arbeiten. Aufgrund der Sondermaßnahmen seit dem 25.7.2021 beklagen Menschen rechtsorganisationen allerdings erschwerte Arbeitsbedingungen (AA 22.6.2023). Aufgrund der Verschwörungsrhetorik von Präsident Saïed werden viele Organisationen in ihrer täglichen Ar beit behindert. Seine feindselige Haltung gegenüber zivilgesellschaftlichen Organisationen und ausländischer Hilfe im Allgemeinen sowie die Aushöhlung des Gesetzesdekrets 2011-88 und des neueren Gesetzesdekrets zur Cyberkriminalität 2022-54 hindern diese Gruppen daran, frei zu arbeiten, und schränken ihren potenziellen Einfluss auf politische Aktionen weitgehend ein (BS 19.3.2024). Ein Gesetz aus dem Jahr 2018 setzt NGO faktisch mit Unternehmen gleich und sieht strenge Berichtspflichten vor. Nach dem Gesetz müssen sich alle NGOs (und Unternehmen) in ein na tionales Einrichtungsregister eintragen lassen und Angaben zu Mitarbeitern, Vermögenswerten, Fusions- oder Auflösungsentscheidungen und Tätigkeiten machen. Die Nichtregistrierung kann 12

zu einem Jahr Haft und einer Geldstrafe führen. Im Oktober 2023 brachten mehrere Parlamenta rier einen Gesetzentwurf ein, der dem Premierminister weitreichende Befugnisse einräumt, um die Gründung einer NGO auszusetzen, zu verweigern oder eine NGO aufzulösen. Der Gesetz entwurf enthält auch Bestimmungen zur Überwachung der Finanzierung von NGOs. Tunesische Vereinigungen, die ohne vorherige Genehmigung ausländische Gelder annehmen, müssen demnach mit Sanktionen und einer möglichen Auflösung rechnen. Menschenrechtsaktivisten haben ihre Besorgnis darüber geäußert, dass dieses Gesetz, so es verabschiedet wird, die tunesische Zivilgesellschaft erheblich unterdrücken würde (FH 29.2.2024). Die tunesische Zivilgesellschaft unterliegt inzwischen immer stärkeren Restriktionen. So stehen u. a. Treffen von Vertretern der Zivilgesellschaft und politischen Aktivisten mit ausländischen Diplomaten sowie die Finanzierung von Aktivitäten durch internationale Geber verstärkt im kriti schen Fokus der Öffentlichkeit – und auch strafrechtlicher Ermittlungen. Viele Organisationen fühlen sich in ihren Betätigungsmöglichkeiten eingeschränkt und immer mehr Aktivisten sorgen sich um ihre persönliche Sicherheit (AA 22.6.2023). Es gibt zahlreiche Berichte über Drohungen und Gewalt gegen Menschenrechtsverteidiger. Laut dem Bericht „ Global Analysis 2022“ von Front Line Defenders missbraucht die Regierung Strafgesetze - zur Terrorismusbekämpfung, zur nationalen Sicherheit, zur Cyberkriminalität u. a. - um die Arbeit von Menschenrechtsverteidigern zu unterbinden oder zu bestrafen (USDOS 23.4.2024). Behörden sind gegen zivilgesellschaft liche Gruppen vorgegangen, insbesondere gegen solche, die sich vor dem Hintergrund des EU-Migrationspakts für die Rechte von Migranten und Flüchtlingen einsetzen, was zu einer noch nie da gewesenen Einschränkung des zivilen Raums seit der Revolution von 2011 geführt hat (AI 30.5.2024). Die Behörden haben mehrere zivilgesellschaftliche Gruppen und Aktivisten ins Visier genommen, indem sie sie verhaftetet und verhört sowie Ermittlungen über ihre Finan zierung eingeleitet haben. Sie sind rigoros gegen die Solidarität mit Migranten vorgegangen und haben Mitglieder von Organisationen verhaftet, die Asylbewerbern und Flüchtlingen helfen. Im Mai 2024 verhafteten Sicherheitskräfte mindestens sechs Mitglieder von drei legal registrierten NGOs, die sich für Migration, Asyl und Gerechtigkeit einsetzen: Mnemty, der Tunesische Flücht lingsrat (TRC) und Terre d’Asile Tunisie. Im gleichen Zeitraum wurden auch Mitglieder anderer Organisationen untersucht und vorgeladen (HRW 16.1.2025). Quellen ■ AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.6.2023): AA Bericht über die asyl- und abschiebungsrele vante Lage in Tunesien (Stand: Mai 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2093953/Auswärtiges_ Amt,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Tunesien,_22.06.2023.pdf , Zugriff 4.12.2024 [Login erforderlich] ■ AI - Amnesty International (30.5.2024): Tunisia: Authorities escalate clampdown on media, freedom of expression, https://www.ecoi.net/de/dokument/2110115.html, Zugriff 23.1.2025 ■ BS - Bertelsmann Stiftung (19.3.2024): BTI 2024 Country Report Tunisia, https://www.ecoi.net/en/fi le/local/2105847/country_report_2024_TUN.pdf, Zugriff 12.11.2024 ■ FH - Freedom House (29.2.2024): Freedom in the World 2024 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/do kument/2105041.html, Zugriff 15.3.2024 ■ HRW - Human Rights Watch (16.1.2025): World Report 2025 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/do kument/2120124.html, Zugriff 21.1.2025 ■ USDOS - United States Department of State [USA] (23.4.2024): 2023 Country Report on Human Rights Practices: Tunisia, https://www.ecoi.net/en/document/2107636.html, Zugriff 11.11.2024 13

9 Wehrdienst und Rekrutierungen Letzte Änderung 2025-02-26 21:10 Die Wehrpflicht war in der Verfassung von 2014 noch explizit verankert, in der per Referendum im Juli 2022 in Kraft gesetzten neuen Verfassung findet sich jedoch nur noch der Satz: „ Die Verteidigung der Heimat ist eine heilige Pflicht für jeden Bürger“ (Art. 14). In der Praxis hat schon zuvor nur ein verschwindender Anteil der Wehrpflichtigen tatsächlich Dienst geleistet (Schätzungen liegen bei 2 %) (AA 22.6.2023). Der verpflichtende Wehrdienst dauert ein Jahr und muss von männlichen Staatsbürgern im Alter von 20-23 Jahren abgeleistet werden. Freiwillig kann man sich bereits ab 18 Jahren zum Militärdienst melden (CIA 23.10.2024; vgl. USDOS 26.6.2024). Die tunesische Staatsbürgerschaft ist Voraussetzung (CIA 23.10.2024; vgl. ÖB Tunis 10.2022). Allerdings ist diese zwölfmonatige Wehrpflicht nur theoretisch gegeben. Ab dem 18. Lebensjahr kann, mit dem 20. Lebensjahr muss jeder Tunesier theoretisch den Dienst leisten. De facto werden nur noch sich freiwillig Stellende und diese nur nach einer genauen Sicherheitsüberprüfung eingezogen. Im Jahr 2017 meldeten sich von 31.000 Einberufenen nur 506 zur Absolvierung ihres Wehrdienstes (ÖB Tunis 10.2022). Im Jahr 2023 waren etwa 35.000 aktive Militärangehörige im aktiven Dienst (CIA 23.10.2024). Seit März 2003 gibt es auch für Frauen die Möglichkeit zur Ableistung des Wehrdienstes (ÖB Tunis 10.2022; vgl. CIA 23.10.2024). Es gibt mehrere Regelungen zur Befreiung vom Wehrdienst. Für Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen gibt es keine Möglichkeit eines Ersatzdienstes (USDOS 26.6.2024). Die einjährige Wehrpflicht kann auch in den Arbeitsverbänden des Service National abgeleistet wer den. Einberufene können aufgrund von Freistellungsregelungen Teile der Wehrpflichtzeit durch Zahlung von entsprechenden Beiträgen verkürzen (AA 22.6.2023). Immer wieder angekündigte grundlegende Reformen des Militärdienstes in Richtung Frauen, Freiwilligkeit, Ausbildung und Verdienst scheiterten bislang u. a. an Regierungswechseln (ÖB Tunis 10.2022). Kriegsdienstverweigerung und Fahnenflucht sind strafbar, entsprechende Verurteilungen aber nicht bekannt (AA 22.6.2023). Quellen ■ AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.6.2023): AA Bericht über die asyl- und abschiebungsrele vante Lage in Tunesien (Stand: Mai 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2093953/Auswärtiges_ Amt,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Tunesien,_22.06.2023.pdf , Zugriff 4.12.2024 [Login erforderlich] ■ CIA - Central Intelligence Agency [USA] (23.10.2024): Tunisia - The World Factbook, https://www.ci a.gov/the-world-factbook/countries/tunisia/#military-and-security , Zugriff 14.11.2024 ■ ÖB Tunis - Österreichische Botschaft Tunis [Österreich] (10.2022): Asylländerbericht Tunesien [Login erforderlich] ■ USDOS - United States Department of State [USA] (26.6.2024): 2023 Report on International Reli gious Freedom: Tunisia, https://www.ecoi.net/de/dokument/2111975.html, Zugriff 28.11.2024 14

10 Allgemeine Menschenrechtslage Letzte Änderung 2025-02-27 10:00 Tunesien hat die meisten Konventionen der Vereinten Nationen zum Schutz der Menschenrech te einschließlich der entsprechenden Zusatzprotokolle ratifiziert und bestehende Vorbehalte größtenteils zurückgezogen. Die Umsetzung der Konventionen in nationales Recht dauern weiterhin an. Das zweite Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und poli tische Rechte zur Abschaffung der Todesstrafe (OP2-ICCPR) wurde bislang nicht unterzeichnet. Der zur Erleichterung der Terrorabwehr seit November 2015 immer wieder verlängerte Aus nahmezustand (auf Grundlage eines Dekrets von 1978) gestattet den Sicherheitsbehörden nicht nur weitreichende Eingriffe in die Bewegungsfreiheit, sondern dadurch auch mittelbar in weitere Grundrechte. Menschenrechtsorganisationen konstatieren in vielen Bereichen - etwa bei der Normsetzung, beim Respekt für und bei der Durchsetzung von Menschenrechten, bei der Offenheit der Regierung für Konsultationen mit der Zivilgesellschaft und den Opfern von Menschenrechtsverletzungen - einen negativen Trend, der schon vor der politischen Krise im Sommer 2021 spürbar war, sich seither aber merklich verstärkt hat (AA 22.6.2023). Seit Beginn des von Präsident Kaïs Saïed vorangetriebenen Staatsumbaus („ Prozess des 25. Juli“) ist beim Menschenrechtsschutz eine Trendumkehr zu verzeichnen. Insbesondere seit Jahresbeginn 2023 hat sich die Lage nochmals deutlich verschlechtert. Die neue Verfassung vom 25.7.2022 hat die seit 2011 hart errungene, aber seit Jahren krisengeplagte parlamentari sche Demokratie Tunesiens in ein hyper-präsidentielles System umgebaut: nahezu vollständige Machtkonzentration beim Staatspräsidenten, Schwächung des Parlaments, Fehlen institutionel ler „ checks and balances“ zur Einhegung der Macht des Präsidenten, zudem zahlreiche mögliche Einfallstore für die Einschränkung von Grundrechten, obgleich diese weitgehend wortgleich aus der Verfassung von 2014 übernommen worden sind. Dies ist jedoch nur die Papierform, in der Praxis geraten die Menschenrechte und insbesondere die politischen und bürgerlichen Rechte und Freiheiten in Tunesien immer stärker unter Druck (AA 22.6.2023). Am 17.8.2022 trat also die neue Verfassung in Kraft, die nach dem Referendum am 25.7.2022 von den Wählern angenommen worden ist. Diese Verfassung spricht Präsident Saïed zuneh mend autoritäre Entscheidungskraft zu, schränkt die Gewaltenteilung substanziell ein und wurde so gut wie im Alleingang vom Präsidenten erstellt. Der Vorgang zeichnete sich durch Intranspa renz und Missachtung des Rechts der Öffentlichkeit, Informationen darüber einzuholen, aus. Die Einschränkungen bei der Durchsetzung von Menschenrechten seit dem Ausrufen des Ausnah mezustands als Antwort auf die Terroranschläge 2015 werden nun durch die neue Verfassung weiter vertieft. Die Verfassung beinhaltet zwar unterschiedlichste Menschenrechtsbestimmun gen im Kapitel „ Rechte und Freiheiten“, hat jedoch jegliche Referenz zu universellen Menschen rechten in der Präambel verloren und schränkt die institutionelle Garantie für Rechtsstaatlichkeit und Schutz der Menschenrechte im Vergleich zur Verfassung von 2014 erheblich ein. Die neue Verfassung räumt dem Präsidenten weitreichende Notstandsbefugnisse ohne den erforderlichen Kontrollmechanismus ein, die zur Beschneidung der Menschenrechte und zur Untergrabung der Rechtsstaatlichkeit genutzt werden können. Darüber hinaus untergräbt die neue Verfassung die Garantien für die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts, einer wichtigen Institution für 15

den Schutz der Menschenrechte, und schränkt dessen Mandat ein, indem sie ihm die Kontrolle über die Verfassungsmäßigkeit der Verlängerung des Ausnahmezustands entzieht. Die Rechte auf persönliche Freiheit, auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit sind aufgrund von Verlängerungen des Ausnahmezustands teilweise noch immer eingeschränkt. Der Tatbe stand der „ Gefährdung der öffentlichen Moral“ gilt weiterhin, ebenso wie immer wieder Fälle von Folter angeprangert werden. Zudem fehlt ein verfassungsrechtliches Höchstgericht (ÖB Tunis 10.2022). Zu den bedeutenden Menschenrechtsproblemen gehören glaubwürdige Berichte über Folter oder grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung durch Regie rungsbeamte; willkürliche Verhaftungen oder Inhaftierungen; schwerwiegende Probleme mit der Unabhängigkeit der Justiz; politische Gefangene oder Häftlinge; willkürliche oder rechtswidri ge Eingriffe in die Privatsphäre; schwerwiegende Einschränkungen der Meinungs- und Medi enfreiheit, einschließlich ungerechtfertigter Verhaftungen oder strafrechtlicher Verfolgung von Journalisten, Zensur oder Durchsetzung oder Androhung der Durchsetzung von Verleumdungs gesetzen zur Einschränkung der Meinungsäußerung; schwerwiegende Einschränkungen der Internetfreiheit; erhebliche Eingriffe in die Vereinigungsfreiheit, einschließlich übermäßig restrik tiver Gesetze über die Organisation, Finanzierung oder Tätigkeit von NGOs und Organisationen der Zivilgesellschaft; Einschränkungen des Rechts, das Land zu verlassen; Zurückweisung von Flüchtlingen in ein Land, in dem ihnen Folter oder Verfolgung droht; schwerwiegende und un angemessene Einschränkungen der politischen Beteiligung; schwerwiegende Korruption in der Regierung, sowohl auf hoher Ebene als auch in großem Umfang; Verbrechen, die mit Gewalt oder Gewaltandrohung gegen Schwarztunesier und Afrikaner südlich der Sahara verbunden sind; Gesetze, die einvernehmliche gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen zwischen Er wachsenen unter Strafe stellen, und die Durchsetzung dieser Gesetze; Gewaltverbrechen oder Gewaltandrohungen gegen Angehörige sexueller Minderheiten; und erhebliche Einschränkun gen der Vereinigungsfreiheit von Arbeitnehmern (USDOS 23.4.2024). Die wichtigste Behörde der Regierung zur Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen und zur Bekämpfung von Menschenrechtsbedrohungen ist das Justizministerium. Menschenrechts organisationen bemängeln allerdings, dass das Ministerium mutmaßlichen Menschenrechtsver letzungen nicht nachgeht oder sie nicht angemessen untersucht. Innerhalb des Präsidialamtes wurde das Hohe Komitee für Menschenrechte und Grundfreiheiten mit der Überwachung der Menschenrechte und der Beratung des Präsidenten in damit zusammenhängenden Fragen beauftragt. Darüber hinaus befasst sich das unabhängige INPT (The National Authority for the Prevention of Torture) mit Folter- und Misshandlungsvorwürfen. Die Regierung unternimmt einige glaubwürdige Schritte, um gegen Straflosigkeit vorzugehen oder Missbräuche einzu dämmen, aber Menschenrechtsgruppen machen häufig geltend, dass es den Ermittlungen zu Missbräuchen durch die Polizei, die Sicherheitskräfte und Beamte von Haftanstalten an Trans parenz mangelt und dass es zu langen Verzögerungen und verfahrenstechnischen Hindernissen kommt (USDOS 23.4.2024). 2014 richtete Tunesien eine Kommission für Wahrheit und Würde (IVD) ein, um die seit 1956 begangenen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verbrechen zu untersuchen. Anfang 2018 16

stimmte das Parlament gegen eine Verlängerung des Mandats der Kommission, eine Entschei dung, die von Rechtsaktivisten als Schwächung der Bemühungen um eine Übergangsjustiz kritisiert wurde. Die Kommission legte ihren Abschlussbericht 2019 vor und veröffentlichte ihn offiziell 2020. Er stützt sich auf mehr als 62.000 Beschwerden tunesischer Bürger gegen den Staat wegen Menschenrechtsverletzungen. Tunesische Gerichte begannen mit der Prüfung von 69 Anklagen und 131 Verweisen der IVD, aber die Notstandsmaßnahmen des Präsiden ten im Jahr 2021 schufen Unsicherheit über die Zukunft des Prozesses der Übergangsjustiz (FH 29.2.2024). Die Empfehlungen der IVD zur Umsetzung wichtiger institutioneller Reformen bleiben unerfüllt. Nichtsdestotrotz war sie eine relevante Instanz bei der Sichtbarmachung der Rolle der ehemaligen Präsidenten sowie anderer hochrangiger Beamter bei Folter, willkürlicher Inhaftierung und vielen anderen Misshandlungen. Am 31.12.2021 endete das Mandat der Kom mission (ÖB Tunis 10.2022). Am 1.8.2024 ordnete ein Richter die Inhaftierung der ehemaligen Vorsitzenden der Kommission für Wahrheit und Würde, Sihem Bensedrine, in Zusammenhang mit ihrer Rolle als Leiterin zwischen 2014 und 2018 an. Ihr werden „Ausnutzung ihrer Posi tion zur Erlangung eines unlauteren Vorteils“, Betrug und Fälschung im Zusammenhang mit dem Abschlussbericht der Kommission vorgeworfen (HRW 16.1.2025; vgl. HRW 17.1.2025). Am 8.8.2024 bezeichneten drei UN-Experten Bensedrines Verhaftung als eine gerichtliche Schikane für ihre Arbeit, die sie als Leiterin der Kommission geleistet hat (HRW 16.1.2025). Am 14.1.2025 trat Sihem Bensedrine im Gefängnis von Manouba in einem Hungerstreik. Bensedrine hat vier Jahrzehnte lang gegen den Missbrauch aufeinanderfolgende Regierungen gekämpft und wurde unter den ehemaligen Präsidenten Habib Bourguiba und Ben Ali inhaftiert. Laut ihren Anwälten basiert ihre Inhaftierung ausschließlich auf einer Klage aus dem Jahr 2020, die sie beschuldigt, den Bericht zu verfälscht zu haben. Sie wird in vier weiteren Fällen im Zusammenhang mit ihrer Arbeit als Kommissionspräsidentin strafrechtlich verfolgt (HRW 17.1.2025). Quellen ■ AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.6.2023): AA Bericht über die asyl- und abschiebungsrele vante Lage in Tunesien (Stand: Mai 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2093953/Auswärtiges_ Amt,_Bericht_über_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Tunesien,_22.06.2023.pdf , Zugriff 4.12.2024 [Login erforderlich] ■ FH - Freedom House (29.2.2024): Freedom in the World 2024 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/do kument/2105041.html, Zugriff 15.3.2024 ■ HRW - Human Rights Watch (17.1.2025): Tunisian Human Rights Defender on Hunger Strike, https: //www.hrw.org/news/2025/01/17/tunisian-human-rights-defender-hunger-strike , Zugriff 22.1.2025 ■ HRW - Human Rights Watch (16.1.2025): World Report 2025 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/do kument/2120124.html, Zugriff 21.1.2025 ■ ÖB Tunis - Österreichische Botschaft Tunis [Österreich] (10.2022): Asylländerbericht Tunesien [Login erforderlich] ■ USDOS - United States Department of State [USA] (23.4.2024): 2023 Country Report on Human Rights Practices: Tunisia, https://www.ecoi.net/en/document/2107636.html, Zugriff 11.11.2024 10.1 Meinungs- und Pressefreiheit Letzte Änderung 2025-02-27 11:04 In Tunesien bleiben Meinungs- und Pressefreiheit zunehmend eingeschränkt (USDOS 23.4.2024). Am Index zur Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen (RSF) lag das Land 2024 auf Rang 17

118 von insgesamt 180 (2023: Rang 121) (RSF 2024). In der Verfassung und in den Gesetzen ist das Recht auf freie Meinungsäußerung verankert - auch für die Presse und andere Medien - doch die Regierung respektiert diese Rechte nicht immer (USDOS 23.4.2024). Die Medienlandschaft ist seit der Revolution von 2011 vielfältiger geworden (RSF 2024), von 2011 bis 2021 nahmen die unabhängigen Medien zu, auch im Internet (FH 29.2.2024). Die Machtergreifung von Präsident Kaïs Saïed im Juli 2021 hat allerdings zu einem großen Rück schlag bzgl. Pressefreiheit geführt (RSF 2024). Ferner sind private Diskussionen in der Regel offen und frei, aber öffentliche Äußerungen zu bestimmten Themen, einschließlich Kritik am Militär, können Repressalien nach sich ziehen (FH 29.2.2024). Seit 2021 verfügt Präsident Saïed über Sondervollmachten. Seither sind Journalisten im Zu sammenhang mit ihrer Arbeit zunehmend Druck und Einschüchterung durch Regierungsbeamte ausgesetzt, einschließlich strafrechtlicher Sanktionen für Verleumdung und andere angebli che Vergehen (FH 29.2.2024). Die Verfassungsänderung vom Juli 2022, die dem Präsidenten weitreichende Gesetzgebungsbefugnisse zu Lasten der bis dahin bestehenden Kontrollme chanismen einräumt, gefährdet die Gewaltenteilung und stellt eine große Bedrohung für die Errungenschaften der tunesischen Revolution in Bezug auf die Pressefreiheit dar. Auch die Unabhängigkeit der Justiz wurde geschwächt, sodass zu befürchten ist, dass die Gerichte bei der Auslegung der neuen Beschränkungen unter dem Deckmantel vermeintlicher Sicherheits erfordernisse politischen Interessen dienen. Die Gerichte entscheiden nach wie vor auf der Grundlage von Gesetzen, die noch aus der Ära Ben Ali stammen, anstatt sich auf die für die Pressefreiheit günstigeren Gesetzesdekrete von 2011 zu stützen (RSF 2024). Nach der Verschlechterung des politischen Umfelds stellt das Gesetzesdekret 54 vom Sep tember 2022 (2022-54) zur Bekämpfung von „ Fake News“ eine neue große Gefahr für die Pressefreiheit dar (RSF 2024). Diese von Präsident Saïed im September 2022 erlassene Ge setzesverordnung 2022-54 über Cyberkriminalität verletzt das Recht auf Privatsphäre und führt harte Strafen für weit gefasste und vage definierte Sprachvergehen ein (AI 30.5.2024). Der Prä sidialerlass aus dem Jahr 2022, der härtere Gefängnisstrafen und Geldstrafen für Personen vorsieht, die „ falsche Informationen oder Gerüchte“ über Online- oder Offline-Kommunikations netzwerke verbreiten, wirkt abschreckend auf kritische Äußerungen. Denjenigen, die verurteilt werden, drohen bis zu 10 Jahre Gefängnis, wenn sich der Inhalt gegen Amtsträger richtet. Das Gesetz räumt auch zivilen und militärischen Strafverfolgungsbehörden einen größeren Spiel raum für den Zugriff und die Durchsuchung privater Geräte und Materialien ein (FH 29.2.2024). Die Behörden haben Artikel 24 des Dekrets 2022-54 häufig genutzt, um abweichende Meinun gen zu unterdrücken. Artikel 24 sieht eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren und eine Geldstrafe von bis zu 50.000 TND (etwa 16.000 US-Dollar) für die Nutzung von Telekommunikationsnetzen vor, um „ Fake News“ oder „ Gerüchte“ zu produzieren, zu versenden oder zu verbreiten, ande re zu verletzen, zu verleumden oder zu Gewalt gegen andere aufzurufen oder die öffentliche Sicherheit oder die nationale Verteidigung zu untergraben, Angst zu verbreiten oder Hass zu schüren. Die Strafe wird verdoppelt, wenn sich die Straftat gegen einen „ öffentlichen Beamten oder eine vergleichbare Person“ richtet. Artikel 86 des Telekommunikationsgesetzes, der von 18

den Behörden seit Langem zur Unterdrückung der freien Meinungsäußerung eingesetzt wird, sieht eine Strafe von bis zu zwei Jahren Gefängnis vor (AI 30.5.2024). Seit 2021 haben die Behörden zunehmend Personen wegen sprachbezogener Vergehen ver folgt, darunter Beleidigung des Präsidenten und Diffamierung des Militärs. Bei den Angeklagten, die sowohl vor Militär- als auch vor Zivilgerichte gestellt wurden, handelte es sich in der Regel um Personen mit bedeutenden Online- oder Offline-Plattformen und nicht um normale Bür ger oder Nutzer sozialer Medien (FH 29.2.2024). Nach Angaben der lokalen NGO Alliance for Security and Liberties leitete die Regierung bis Juli 2023 mindestens 20 strafrechtliche Ermitt lungen auf der Grundlage des Dekrets 2022-54 wegen Handlungen ein, die mit der Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung zusammenhängen (USDOS 23.4.2024). Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen haben die tunesischen Behörden die Unterdrückung der freien Meinungsäußerung durch das Dekret 2022-54 über Cyberkriminalität und andere, veraltete Ge setze verschärft. Mit Stand Mai 2024 befanden sich mindestens 40 Personen willkürlich in Haft, darunter politische Gegner, Journalisten, Aktivisten, Menschenrechtsaktivisten und Nutzer sog. sozialer Medien (AI 30.5.2024). Organisationen der Zivilgesellschaft äußern sich hinsichtlich der Anwendung des Verleumdungsstrafrechts zur Unterdrückung der freien Meinungsäußerung besorgt. Laut Freedom House hat die Selbstzensur im Internet seit Juli 2021 zugenommen, da sowohl Journalisten als auch Internetnutzer versuchen, Vergeltungsmaßnahmen für bestimmte Äußerungen zu vermeiden, insbesondere für Kritik am Präsidenten, an den Sicherheitskräften oder an Regierungsstellen (USDOS 23.4.2024). Eine von einer zivilgesellschaftlichen Organisa tion durchgeführte Umfrage zur Bewertung des Rechts auf freie Meinungsäußerung im Internet nach der Verabschiedung des Gesetzesdekrets 2022-54 ergab, dass sich nur 8 % der Befragten frei fühlten, ihre Meinung in den sozialen Medien zu äußern, und 78 % nannten die Überwachung durch die Regierung als Ursache für den Rückgang der Online-Freiheit (FH 16.10.2024). Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen und unabhängigen Journalisten kommt es weiterhin zu Gewalt und Schikanen gegen Journalisten. In ihrem im Mai 2023 veröffentlichten Jahresbericht bezeichnete die Nationale Union der tunesischen Journalisten (SNJT) das Jahr als das gefährlichste für Journalisten, seit die SNJT im Jahr 2017 mit der Berichterstattung zu dieser Frage begonnen hat. Im Juli 2023 meldete Amnesty International mehr als 39 Ermittlungen oder strafrechtliche Verfolgung von Bloggern, Journalisten und anderen Personen wegen friedlicher Meinungsäußerung. In einem SNJT-Bericht vom September 2023 wurden 295 verbale und physische Angriffe gegen Journalisten von Mai 2022 bis August 2023 verzeichnet (USDOS 23.4.2024). Der Zugang zum Internet wird von der Regierung im Allgemeinen nicht eingeschränkt oder unter brochen, obwohl es laut Freedom House einige Zugangshindernisse, inhaltliche Einschränkun gen und Verstöße gegen die Nutzerrechte gibt. Die NGO berichtet, dass Regierungsbehörden und verschiedene andere Stellen manchmal versuchen, Online-Inhalte zu entfernen (USDOS 23.4.2024). 19

Quellen ■ AI - Amnesty International (30.5.2024): Tunisia: Authorities escalate clampdown on media, freedom of expression, https://www.ecoi.net/de/dokument/2110115.html, Zugriff 23.1.2025 ■ FH - Freedom House (16.10.2024): Freedom on the Net 2024 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/do kument/2116595.html, Zugriff 28.11.2024 ■ FH - Freedom House (29.2.2024): Freedom in the World 2024 - Tunisia, https://www.ecoi.net/de/do kument/2105041.html, Zugriff 15.3.2024 ■ RSF - Reporter ohne Grenzen (2024): Tunisia, https://rsf.org/en/country/tunisia, Zugriff 24.1.2025 ■ USDOS - United States Department of State [USA] (23.4.2024): 2023 Country Report on Human Rights Practices: Tunisia, https://www.ecoi.net/en/document/2107636.html, Zugriff 11.11.2024 10.2 Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit Letzte Änderung 2025-02-27 11:17 Verfassung und Gesetze sehen Versammlungsfreiheit vor (USDOS 23.4.2024; vgl. AA 22.6.2023), und die Regierung respektiert diese Rechte im Allgemeinen (USDOS 23.4.2024). Ein Gesetz zur Terrorismusbekämpfung aus dem Jahr 2015 und aufeinanderfolgende Ausnahmezustände schränken Versammlungen jedoch erheblich ein (FH 29.2.2024). In Zarzis kam es infolge eines Bootsunglücks im September 2022, bei dem 18 Menschen ertrun ken sind, zu anhaltenden Protesten gegen die lokalen Behörden und die Migrationspolitik der Regierung. Gegen den Staatsumbau von Staatspräsident Saïed kam es im Laufe des Jahres 2022 und rund um die Parlamentswahlen zu Jahresbeginn 2023 zu regelmäßigen Protesten von Ennahdha und anderen Oppositionsparteien/-bündnissen, die friedlich verliefen und später abgeflaut sind. Gleichwohl kommt es immer wieder auch zu Einschränkungen der Demonstrati onsfreiheit. Dabei ist das Verbot von Versammlungen ohne eine konkrete Bedrohungslage unter dem geltenden Ausnahmezustand grundsätzlich zulässig. Allerdings wirft die ständige - de facto unbegrenzte - Verlängerung des Ausnahmezustands seit 2015 ihrerseits rechtliche Fragen auf. Oftmals beklagt auch die Presse Einschränkungen ihrer Berichterstattung durch Sicherheits kräfte bei friedlichen Protesten (AA 22.6.2023). Die Polizei geht bei öffentliche Demonstrationen regelmäßig mit Gewalt vor. Journalisten haben fotografiert, wie Beamte zu unterschiedlichen An lässen Schlagstöcke, Tränengas und gepanzerte Fahrzeuge gegen Demonstranten eingesetzt haben (FH 29.2.2024). Das Gesetz bzw. Artikel 42 der Verfassung sieht das Recht auf Vereinigungsfreiheit vor, die Regierung respektiert es jedoch nicht immer (USDOS 23.4.2024; vgl. AA 22.6.2023). Das 2011 liberalisierte Vereinsrecht (Dekret 88) basiert auf dem Grundsatz der bloßen Erklärung der Ver einsgründung gegenüber dem Generalsekretariat der Regierung. Dabei müssen bestimmte notariell beglaubigte Unterlagen vorgelegt werden. Mit einer entsprechenden Eingangsbestä tigung kann die Bekanntmachung im Amtsblatt erfolgen. Gleichwohl enthält das Vereinsrecht Möglichkeiten der Sanktionierung von nicht-rechtstreuen sowie verfassungswidrigen Vereini gungen (AA 22.6.2023). 20
